Wenn die Nachrichten nicht abreißen dürfen, dann wird selbst das zu einer: dass auf dem Flughafen in Düsseldorf wartende Passagiere einfach so weiter Kaffee trinken, weil sie noch nichts von dem Absturz mitbekommen haben. Dass Passagiere, die es mitbekommen haben, nun ein mulmiges Gefühl haben, selbst zu fliegen. Dass es ihnen, das hat man nun wirklich nicht vermutet, leidtue um die Opfer. Dass Ann-Kristin G. (21) aus Ratingen beinahe auch in der Maschine gesessen hätte. Dass die Angehörigen unter Schock stünden. Dass Seelsorger versuchen, die Situation, die nicht auszuhalten ist, mit den Angehörigen auszuhalten (es folgt ein Video). Dass Schaulustige von der Bergungsstelle ferngehalten werden sollen, und man ahnt schon, wer diese Schaulustigen wohl sein werden – auch wir Journalisten. Dass eine Nachbarin den Copiloten Andreas L., der mutmaßlich das Flugzeug hat abstürzen lassen, nicht kannte, aber nun ständig an ihn denke, man sei ja benachbart gewesen. Dass Andreas L. ein netter und höflicher Mensch war.

Alles zu lesen im "Live-Blog zum Unglück", "Flugzeugabsturz im Live-Ticker", "Live-Ticker", "Live-Blog", "Live-Stream"; fast alle Medien ziehen bei außergewöhnlich schrecklichen oder großen Ereignissen mit, die Boulevard-Presse genauso wie die seriöse, auch die öffentlich-rechtlichen Sender sind dabei.

Die einen versuchen, sich an Meldungen mit Nachrichtenwert zu halten, Offizielles zu vermelden und dem Boulevard zu widerstehen, der jedes noch so absurde Gerücht zur Nachricht erhebt. Aber bei allen Mühen, sie tappen dennoch in dieselbe Falle: Mit der Einrichtung eines "Live-Tickers" nach jedem bewegenden Ereignis, ganz gleich ob Terroranschlag oder Flugzeugabsturz, verwischen sie den Unterschied zwischen Bedeutsamem und Nebensächlichem.

Die Nachricht vom Unglück wird überspült von der Flut der darauffolgenden Meldungen. Es gibt keine Hierarchisierung, keine Einordnung, keine Erklärung, im Live-Ticker erscheint alles gleich wichtig: die Zahl der Opfer und die Nachrichten über den Copiloten Andreas L. ebenso wie Ann-Kristin G., die fast mitgeflogen wäre oder welche Politiker nun welche Kontrollen fordern. Medien folgen so der Logik von Twitter und Facebook. Aber sie sind nicht Twitter, auch nicht Facebook.

Das Berichten in Echtzeit verstümmelt jede Wirklichkeit, wenn gerade nichts passiert. Es wird zum Selbstzweck, denn das, was bekannt ist, wäre in fünf Minuten gesagt. Innezuhalten, zu sagen: Momentan wissen wir auch nicht mehr – das geht nicht. Im Laufe des Dienstagnachmittags wurden keine neuen Erkenntnisse zum Absturz des Germanwings-Airbus bekannt, aber kein Sender verzichtete auf Sondersendungen, fortlaufende Live-Schalten und Expertengespräche, in denen gemutmaßt wurde, was geschehen sein könnte. Der Satz der Stunde fiel im Brennpunkt, aber nicht nur da: "Momentan verbieten sich ja alle Spekulationen über die Unfallursache, aber was könnte da eigentlich passiert sein?" Vielleicht alles. Vielleicht nichts. Aber damit kriegt man keine 45-Minuten-Sendung voll. 

"Simultationsmoderne" nannte der Philosoph Jean Baudrillard diesen Zustand der Gesellschaft, in der authentische und simulierte Ereignisse nicht mehr auseinanderzuhalten seien. Man muss seine Theorie nicht teilen, um anzuerkennen: Es gilt die Realität, die Medien herbeisenden und herbeischreiben – mitunter mit fataler Wirkung für das tatsächliche Geschehen.

Warum eigentlich darf der künstlich erzeugte Nachrichtenstrom nicht abreißen? Sind die Medien schuld (das wäre dann doch sehr einfach), oder doch die Zuschauer, die dranbleiben, sich durchklicken, einschalten? Werden mit Sondersendungen und Live-Tickern Bedürfnisse befriedigt – oder erst geweckt? Was wäre dagegen zu sagen, nur dann auf Sendung zu gehen, wenn neue, relevante Informationen vorliegen und diese wirklich bestätigt sind? Denn es ist ein Irrtum, zu glauben, dass Aufmerksamkeit die Währung ist, in der sich Mitgefühl ausdrückt.