"Wir führen alle zwei Leben", sagt Sherif. "Eines in der Öffentlichkeit und eines in unserem Kopf." Sherif, der eigentlich anders heißt, kauert in einem Kairoer Vorort auf dem Holzstuhl eines Cafés und beugt sich über den Tisch. Seine Stimme ist gedämpft und er lässt unaufhörlich die Augen durch den Raum kreisen. Nie werde er seinen Eltern, Kollegen oder Freunden sagen können, wer er wirklich sei. Sie würden ihn verjagen oder verprügeln und vielleicht sogar, das wäre für Sherif das Schlimmste, an die Polizei verraten. "Der Staat ist unser größter Feind", sagt er. Denn Sherif ist schwul. Und Männer, die Männer lieben, sind im neuen Ägypten Freiwild.

Nie zuvor wurden Homo-, Bi- und Transsexuelle in Ägypten derart verfolgt wie unter der Regierung von Präsident Abdel Fattah al-Sissi. Einschlägige Cafés und Bars werden von der Geheimpolizei kontrolliert, Onlineforen überwacht und deren Nutzer aufgespürt, regelmäßig gibt es Razzien und Verhaftungen. Seit 2013 wurden schätzungsweise 150 Menschen inhaftiert, mehr als 100 sollen noch immer im Gefängnis sitzen, genaue Zahlen kennt niemand. Die Vorwürfe lauten: "Anstachelung zu unsittlichem Verhalten" oder "Verhöhnung der Religion". Denn offiziell verboten ist Homosexualität in Ägypten nicht.

"Seit einem Jahr gehen Staat und Polizei extrem gegen die Szene vor", sagt Dalia Hameed von der Menschenrechtsorganisation Egyptian Initiative for Personal Rights (EIPR). Zwar waren Homosexuelle auch unter Langzeitdiktator Hosni Mubarak immer mal wieder im Visier des Staates. Doch eine derart systematische Jagd, sagen Experten einstimmig, hat es noch nie gegeben.

Es begann im Herbst 2013, als Polizisten Dutzende Männer in einem Kairoer Sportstudio festnahmen. Wenig später wurden mehrere Männer auf einer Party verhaftet. Dann erschienen immer häufiger Schlagzeilen über spektakuläre Festnahmen unter dem Vorwurf von Transvestismus und Prostitution. Im November 2014 wurden acht Männer wegen der Beteiligung an einer vermeintlichen Schwulen-Hochzeit zu dreijährigen Haftstrafen verurteilt. Die Strafe wurde später auf ein Jahr herabgesetzt. Für weltweiten Aufruhr sorgte zuletzt die Stürmung eines Kairoer Badehauses im Dezember: Die Polizei führte 26 Männer fast unbekleidet und unter laufenden Kameras ab, weil sie angeblich an einer Orgie teilgenommen hatten.

Die Männer wurden zwar mittlerweile freigesprochen. Doch viele sehen die öffentlichkeitswirksame Einschüchterung als Teil einer Repressionswelle, die sich derzeit so drastisch wie nie gegen sämtliche Kritiker des Systems richtet: Aktivisten, Oppositionelle, Journalisten, Atheisten und eben Homosexuelle stehen unter Generalverdacht, werden diffamiert und verfolgt. "Der Polizeistaat ist zurück", sagt Dalia Hameed von EIPR. "Die Botschaft ist: Die Polizei hat die Gesellschaft unter Kontrolle. Nur sie kann den moralischen Verfall aufhalten."

Gerichte erkennen Untersuchungen des Afters als Beweise an

Die Szene sei in Aufruhr, sagt Sherif und nippt an seinem Tee. Die meisten seiner Bekannten haben Ägypten schon verlassen. Die anderen leben im Untergrund, in ständiger Furcht vor Spitzeln und der omnipräsenten Überwachung. In die Cafés der Innenstadt, einst Treffpunkte für Intellektuelle und Revolutionäre, traue sich heute kaum noch jemand. Zu präsent seien dort nun Militär und Polizei. Wie tief die Furcht vor Verfolgung sitzt, zeigt sich auch in der Recherche: Kaum jemand möchte mit Journalisten reden, Interviews werden kurzfristig abgesagt, Informationen in E-Mails und sozialen Medien werden verschlüsselt und mit der Bitte versehen, in allen Formulierungen vage zu bleiben. Immerhin hat der Staat nicht nur seine Überwachung von Websites und sozialen Netzwerken zuletzt massiv ausgeweitet. Auch erzählen Kenner der Szene von gefälschten Accounts, die Polizisten anlegen, um sich über Onlineportale mit anderen Nutzern zu verabreden und diese am Treffpunkt festzunehmen. Chats und Forenbeiträge dienen dann als Beweise.

Als Beweise vor Gericht gelten auch Untersuchungen des Afters, die Polizisten oder Ärzte mit Verhafteten durchführen: Der Mann muss vornüber knien, dann steckt ihm jemand einen Finger oder Gegenstand in den After. Sollte dieser dehnbar sein, so die offizielle Erklärung, sei dies ein Beleg für häufigen Analverkehr und somit für die Schuld des Angeklagten. Menschenrechtsorganisationen prangern diese Methode als Folter an.