Er ist frei. Das Landgericht Göttingen hat Aiman O. von allen Vorwürfen im Transplantationsskandal freigesprochen, obwohl der Chirurg nachweislich trickste, um seinen Patienten zu einer Spenderleber zu verhelfen. Juristisch blieb den Richtern wohl kaum etwas anderes übrig. Moralisch vertretbar ist das Handeln des Arztes aber nicht.

Aiman O. hat irgendwann beschlossen, selbst über Leben und Tod zu entscheiden. Er entwickelte dafür sogar eine Methode. Nicht nur in Göttingen, schon in Regensburg manipulierte er Daten, damit Patienten unter seiner Obhut schneller eine Leber bekamen, als es die offizielle Transplantationsliste vorsah. Das hat er nicht geleugnet, er hat im Verlauf des Verfahrens mehrfach zu seinen Entscheidungen gestanden. Aiman O. ist überzeugt davon, das Richtige getan zu haben. Er stellte sich wissentlich über das System. Damit ist er zu weit gegangen.

Die Verantwortung, die O. auf sich genommen hat, ist zur Bürde einer ganzen Zunft geworden. Selbstverständlich sollten Ärzte stets im Interesse ihrer Patienten handeln. Sie sollten wissen, welche Behandlung am besten ist, weil sie objektiv die Krankengeschichte und die aktuellen Werte der Patienten deuten. Und sie müssen ihren Patienten dann die entsprechenden Optionen und Erfolgsaussichten darlegen. Entscheidungen über Leben und Tod zu treffen und abzuwägen, gehören gewissermaßen zum Jobprofil eines Chirurgen.

Ärzte dürfen keine Richter sein

Doch der Handlungsspielraum endet, wenn es darum geht, gezielt zu beeinflussen, welche Person womöglich leben darf und wer sterben soll. Die Macht des Arztes darf ihn nicht dazu verführen, sich zum Richter zu erheben. Wer mit Platzierungen auf der Transplantationsliste spielt, nimmt in Kauf, anderen zu schaden. Egal ob der Grund dafür ein "falsches Verständnis [ist], seinen Patienten helfen zu wollen‘", wie Gutachter im Fall von Aiman O. mutmaßten. Und erst recht nicht, wenn der Arzt damit seine Reputation steigert (auch das mutmaßten die Gutachter), sich gar finanziell über Boni bereichert, weil er fleißig für seine Klinik transplantierte (die Staatsanwaltschaft sah hier ein klares Motiv).

Ein Arzt ist zudem in seiner Beurteilung nicht unfehlbar. Brauchten die Göttinger Patienten tatsächlich so dringend, wie von O. angegeben, ein Spenderorgan? Waren die Risiken nicht in einigen Fällen von vornherein größer als der Nutzen? Es gibt Gutachter, die die erste Frage mit "Nein", die zweite mit "Ja" beantworten.

Wie muss es sich anfühlen, einem Kranken die Hoffnung auf baldige Genesung nehmen zu müssen? Wie belastend muss es sein, zu wissen, dass jemand sterben wird, weil ein Organ nicht rechtzeitig zur Verfügung steht? Wer in der Transplantationsmedizin arbeitet, sieht sich regelmäßig mit diesen Fragen konfrontiert und trägt damit eine enorme Last. Deshalb gibt es ethische Richtlinien. Sie schützen nicht nur die Patienten, sondern auch jene, die sie medizinisch versorgen.

Wer Regeln folgt, gibt Verantwortung ab – das ist wichtig

Sie schaffen einen Halt, ein Gefüge, einen moralischen Kompass, nach dem Ärzte navigieren können. Sich auf die Richtlinien zu beziehen, ist keine Ausrede, kein Versteifen auf Paragrafen, sondern es befreit von einem Teil der großen Verantwortung; vielleicht auch von einem Stück gefühlter Schuld. Die Regeln sind nicht da, um gebrochen zu werden.

Zugegeben, es ist ein fragiles Konstrukt, das viel verlangt: Einem Notleidenden nicht sofort helfen zu dürfen, obwohl man es theoretisch könnte, kann hilflos machen. Gar das Gefühl vermitteln, dem ärztlichen Eid nicht nachkommen zu können. Verführerisch ist es, wenn dann ein System einfach zu manipulieren ist, weil Daten rasch geändert werden können und Kontrollinstanzen nicht genau hinschauen, wie es jahrelang der Fall gewesen zu sein scheint.

Vielleicht brauchte es diesen Fall, damit die Organvergabe sicherer wird. Das spricht O. und Kollegen – auch an anderen Kliniken waren über Jahre Laborwerte manipuliert worden – jedoch nicht von ihrem Handeln frei und macht sie erst recht nicht zu einem Vorbild. Das Transplantationssystem wird immer anfällig sein, zu groß ist die Not, auf dem es fußt. Um über Leben und Tod zu entscheiden, braucht es Selbstsicherheit. Sich in seinem Können so sicher zu sein, dass man sich dem System überlegen fühlt, gibt aber niemandem das Recht, zum Richter zu werden. Die Vergabe von Organen an Patienten darf kein einzelner Arzt verantworten. Die Stärke des Systems liegt in der Gemeinschaft. Gut, dass dies inzwischen auch rechtlich geregelt ist. Seit August 2013 machen sich Ärzte, die handeln wie Aiman O. es tat, strafbar.