ZEIT ONLINE: Von der Revolution zur Vereinfachung bis hin zur Liebe. Lässt sich der Weg von Tocotronic in den letzten zwei Jahrzehnten so zusammenfassen?

Dirk von Lowtzow: Es ist ja inzwischen unser elftes Album – und hoffentlich nicht unser letztes – und wenn sich daraus von außen eine Entwicklung ablesen lässt, ist das natürlich schön. Mit welchen Worten sich dieser Weg beschreiben lässt, müssten jedoch eher unsere Hörer uns sagen, einfach weil es schwierig ist, sich selber beim Entwickeln zuzugucken.

ZEIT ONLINE: Und warum jetzt die Liebe?

Von Lowtzow: Das hat sich so ergeben. Das vorige Album Wie wir leben wollen war sehr stark von einer diskursiven Annäherung an große Begriffe wie Körper, Befreiung und Leben geprägt. Irgendwie erschien es uns ganz natürlich, davon ausgehend den Fokus auf einen Nahbereich zu verengen, nämlich auf das Thema Liebe. 

ZEIT ONLINE: Also "Wie wir lieben wollen"?

Von Lowtzow: Ja, man könnte es durchaus als Fortsetzung unseres letzten Albums verstehen und es auch so nennen, weil natürlich eine Menge Wut über eine konventionelle und normative Bedeutung von Liebe mitschwingt. Wir wollen lieben, wie wir es auf dem Album beschreiben – und nicht so, wie viele andere es tun oder wie die Gesellschaft es vorgibt, nämlich heteronormativ. Daran haben wir uns natürlich abgearbeitet.


ZEIT ONLINE:
Liebe ist ja auch ein gewaltiges Wort …

Von Lowtzow: … was es uns schwer gemacht hat, die Idee gut umzusetzen. Als wir in der Band darüber diskutiert haben, meinte Jan Müller zu mir, "Na ja, das ist ja schon ein ganz schön großer Begriff". In der Popmusik und im Schlager gibt es jede Menge Beispiele dafür, wie wir es nicht machen wollten. Schließlich haben wir uns aber gedacht, wir müssen es irgendwie angehen. Das sind wir dem Thema schuldig.

ZEIT ONLINE: Was bedeutet denn Liebe?

Von Lowtzow: Es wäre vermutlich vermessen zu sagen, "Wir, die Gruppe Tocotronic, präsentieren den State of the Art in Sachen Liebe". Deshalb wollen wir keine finale Antwort geben. Die Idee ist vielmehr, verschiedene Facetten von Liebe zu beleuchten – wie in einer Art nicht alphabetischer Enzyklopädie der Liebe, ähnlich dem Albumtitel The Lexicon of love von ABC aus den Achtzigern oder dem Literaturklassiker Fragmente einer Sprache der Liebe von Roland Barthes.

ZEIT ONLINE: Der zweite Titel des Albums, Ich öffne mich, beschäftigt sich mit dem gleichermaßen angst- wie lustvollen Vorgang, sich durch einen anderen Menschen berühren zu lassen. Was gibt es bei so einer Öffnung zu gewinnen?

Von Lowtzow: In der Öffnung liegt das Versprechen auf eine körperliche Utopie. Michel Foucault beschäftigte sich mit dieser Art von Körperlichkeit. Viele Bereiche des eigenen Körpers kennt man ja nicht so genau, weil man nicht hinschauen oder -fassen kann. Das Körperinnere zum Beispiel. Auch der Rücken, der Po oder der Bereich hinter den Ohren bleiben einem weitgehend verborgen. Auf gewisse Weise sind das utopische Orte, die man durch Berührung, Liebkosung oder sexuelle Praktiken kennenlernen kann, wenn man sich jemand anderem öffnet.