Glaubt man Martin Xuereb, dann lebt Europa mit einer Lüge. Die Lüge ist bequem, sie wird von Politikern vorgetragen, sie hilft, das Gewissen zu beruhigen. Sie lautet: Niemand kann verhindern, dass Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Das Gewässer: zu unübersichtlich. Die Zahl der Flüchtlinge: zu groß. Die potenziellen Kosten: unüberschaubar. "Das ist alles nicht wahr", sagt Xuereb. "Natürlich könnten wir die Zahl der Ertrinkenden deutlich senken."

Xuereb, ein hochgewachsener Mann Ende 40, weiß, wovon er redet. Er war mehrere Jahre Armeechef auf Malta, dem Inselstaat, der selbst schon Flüchtlingsunglücke erlebt hat. Xuereb hat einige Rettungsaktionen vor Maltas Küsten geleitet, er saß in europäischen Gremien, in denen es auch um die Flüchtlingsfrage ging. Schon lange appelliert er an Europas Staatschefs, die Politik auf dem Mittelmeer zu überdenken. "Das Retten und Auffinden von Flüchtlingen muss nach oben auf die Agenda", sagt er. "Und zwar schnell."

Es ist vor allem eine Zahl, die Fachleute wie Xuereb beunruhigt: 900. So viele Menschen starben nach Angaben der Vereinten Nationen allein von Januar bis heute bei dem Versuch, Europa über das Mittelmeer zu erreichen. 900 Tote in knapp vier Monaten – das sind mehr als zehnmal so viele wie noch im vergleichbaren Zeitraum des vergangenen Jahres. Und das, obwohl die Zahl der Reisenden zumindest auf der Hauptroute nach Italien etwa gleich geblieben ist. Das Mittelmeer ist in den vergangenen Monaten kein sicherer Ort geworden, sondern ein noch gefährlicherer. 

Was noch beunruhigender ist: Europa wird von dem Sterben an seinen Grenzen nicht mehr aufgeschreckt. Als im Oktober 2013 vor Lampedusa rund 366 Menschen ertranken, sprach der damalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta von einem "europäischen Drama" und EU-Kommissionspräsident Manuel Barroso reiste persönlich an den Unglücksort. Als am vergangenen Sonntag ein Boot mit mehr als 500 Flüchtlingen aus Gambia und anderen Ländern des südlichen Afrikas kenterte und vermutlich 400 Menschen mit in den Tod riss, war das den meisten Nachrichtenseiten nur noch eine Meldung wert. Das Sterben im Mittelmeer wird zum Alltag, so wie einst die Toten nach Anschlägen im Irak oder in Afghanistan. Dabei sterben die Menschen nicht im fernen Orient, sondern direkt vor den Grenzen Europas. 

Das Sterben zu stoppen wäre leichter, als viele Deutsche denken.

Warschau, ein gläserner Bürobau am Rande der Innenstadt, das Lagezentrum der Grenzschutzagentur Frontex. Hier, im elften Stock, flimmern Karten und Satellitenbilder von Europa über Flachbildschirme. Zwei Mal täglich zeigen die Bildschirme ein aktuelles Satellitenbild des Mittelmeers. Mitarbeiter zoomen wie bei Google Maps hinein und beobachten verdächtige Schiffe in den Häfen und an den Küsten. Wenn sie vermuten, dass es sich um ein Schlepperboot handelt, alarmieren sie die Behörden. So geschehen etwa im September 2014, als ein Satellit auf der Route von Marokko und Spanien ein Schlauchboot erfasste. Die spanische Küstenwache wurde gewarnt und konnte anschließend 38 Flüchtlinge aus der Seenot retten.

Das System, das die Überwachung des Meeres möglich macht, heißt Eurosur. Angeschafft wurde es Ende 2013. Mit Drohnen, Satelliten, Küstenradarstationen und Aufklärungsflugzeugen überwacht Europa seither seine Grenzen. Jedes Schiff, das mehr als 300 Tonnen wiegt, erscheint auf den Monitoren in Warschau. Hinzu kommen Daten, die die einzelnen Nationalstaaten einspeisen. Das Mittelmeer ist auf diese Weise längst ein gut bewachter Ort geworden. "Wir haben schon lange kein Problem mehr die Schiffe zu entdecken, auch Boote in Seenot", sagt Stephan Keßler vom Jesuiten-Flüchtlingsdienst, der auch dem Menschenrechtsrat von Frontex vorsitzt. "Die Behörden in Europa wissen oft sehr genau, wo sich die Schiffe befinden."

Auch Frontex verhehlt nicht, wie viel man über das Geschehen auf dem Mittelmeer weiß. Doch die Aufgabe der Agentur ist es, die Außengrenzen der EU abzusichern, nicht aber Flüchtlinge aus Seenot zu retten. Dafür sind die Nationalstaaten verantwortlich. Zwar tauschen die Länder Informationen aus, die bei Frontex in Warschau zusammenlaufen. Wenn aber ein Schiff auf den Monitoren der Grenzschützer erscheint, wird oft gestritten, welches Land zuständig ist. "Manchmal ist schlicht nicht klar, in welcher Seenotrettungszone ein dahin driftendes Boot unterwegs ist", sagt Keßler. Zuletzt kam es zwischen Malta und Italien immer wieder zu Abstimmungsproblemen. Wertvolle Zeit für die Rettung ging verloren.

Hinzu kommt: Europas Mitgliedstaaten haben sich aus der Flüchtlingsrettung zuletzt sogar zurückgezogen. Noch im Oktober 2013 hatte die italienische Regierung auf das Unglück von Lampedusa mit einer groß angelegten Rettungsaktion reagiert: der Operation Mare Nostrum. Die italienische Marine schickte ein Landungsschiff auf See, zwei Fregatten mit Hubschraubern und zwei Korvetten. Aufklärungsdrohnen und Flugzeuge gingen in die Luft. Das Kommando rettete 150.810 Flüchtlinge – in nur einem Jahr. Rund 9,3 Millionen Euro setzten die Italiener jeden Monat für die Mission ein.

Menschenrechtsorganisationen lobten Mare Nostrum, obwohl auch während der Laufzeit der Operation 3.500 Menschen starben. Doch nur ein Jahr später, im Herbst 2014, wurde Mare Nostrum wieder eingestellt. Die Last der Operation war für die italienische Marine alleine zu schwer geworden. Seither gibt es zwar die Frontex-Mission Triton. Doch die ist keine Rettungsaktion, sondern sie dient der Grenzsicherung. Außerdem muss Frontex auf Schiffe der nationalen Küstenwachen zurückgreifen und verfügt über deutlich weniger Geld. "Triton kann kein Ersatz sein", sagt Keßler. "Es bräuchte eine koordinierte europäische Rettungsorganisation."

Keßler ist mit sein Meinung nicht allein. Selbst altgediente Militärexperten glauben, dass Europa eine solche Mission starten sollte – und könnte.

Einer von ihnen ist Lutz Feldt. Feldt, 69 Jahre alt, war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2006 Vizeadmiral und Inspekteur der deutschen Marine. Vierzig Jahre lang hat er so ziemlich alles kommandiert, vom Minensuchboot bis zur Zerstörerflottille. Er war dabei, als die deutsche Marine Piraten und Terroristen am Horn von Afrika jagte und während des zweiten Golfkrieges Minen im Persischen Golf suchte. Mittlerweile berät er mit anderen Admirälen aus Frankreich, Spanien und Italien die Europäische Union in maritimen Sicherheitsfragen. Er sagt: "Die Europäische Union muss im Mittelmeer eine zivilmilitärische Operation zur Rettung der Flüchtlinge etablieren."

Feldt hält eine solche Mission nicht für unrealistisch. Im Gegenteil: Er hat konkrete Vorstellungen, wie sie gelingen könnte. "Der Aufwand wäre groß", sagt er. "Aber er wäre auch nicht größer als bei der Anti-Piraten-Mission Atalanta am Horn von Afrika." Mit der Mission Atalanta bekämpft die EU seit 2008 Piraten im Indischen Ozean vor der afrikanischen Küste. Noch immer sind fünf Militärschiffe und zwei Flugzeuge dort im Einsatz. Die Mission gilt als Erfolg, die Piraterie als weitgehend besiegt. Die EU habe damals schon Erfahrung gesammelt, wenn es darum ging, ein Problem auf See gemeinsam zu lösen. Warum also, fragt Feldt, rettet die EU die Flüchtlinge nicht mit den Methoden, mit denen sie auch die Schlepper bekämpft?

Ein Einsatz im Mittelmeer wäre sogar leichter zu organisieren als die Anti-Piraten-Mission, sagt Feldt. Die Wege im Mittelmeer sind kurz, die Entfernungen zu Versorgungshäfen gering. Mit Spanien, Frankreich, Italien, Malta, Griechenland und Zypern gibt es sechs Anrainerstaaten, die Logistik stellen könnten. Die EU könnte auf Kommandostrukturen der Nato zurückgreifen. Das Militärbündnis überwacht den Mittelmeerraum ohnehin seit 2001 im Rahmen der Anti-Terror-Operation Active Endeavour.  

Hinzu kommen die Daten von Eurosur. Wie bei Atalanta könnten die Mitgliedsstaaten im Rotationsverfahren Schiffe, Aufklärungsstrukturen, Hubschrauber und Drohnen stellen, um dem Problem Herr zu werden. Wie bei der Anti-Piraten-Mission würde es dauern, bis der Einsatz Wirkung zeigt, sagt Feldt. Irgendwann aber werde die Zahl der Toten sinken.

Ein solcher Plan fände viele Fürsprecher. Egal ob das Rote Kreuz, Save the Children, die UN oder die Internationale Organisation für Migration (IOM): Sie alle fordern jetzt einen europäischen Masterplan, der noch vor dem Sommer kommt. "Wir brauchen so schnell wie möglich eine europäische Initiative", sagt Flavio di Giacomo, der in Rom für IOM spricht. Karl Kopp, Europareferent von ProAsyl sagt: "Es machen sich gerade Hunderttausende auf den Weg in die Boote. Wenn nichts passiert, wird das das schlimmste Jahr im Mittelmeer." Bisher aber gibt es keine Anzeichen, dass die EU ihre Politik überdenken will.

Der Maltese Martin Xuereb hat daraus seine eigenen Schlüsse gezogen. Seit zwei Jahren ist er Direktor der Migrant Offshore Aid Station (MOAS), einer Organisation, die Flüchtlinge auf eigene Faust aus dem Mittelmeer retten will. Ab Mai schickt die Gruppierung, die von einem italienisch-amerikanischen Ehepaar vor zwei Jahren gegründet und mit Geld ausgestattet wurde, wieder einen Frachter auf See: die Phoenix, ein Schiff mit 20 Besatzungsmitgliedern, an deren Bord auch Mediziner und Sicherheitsexperten sind. Im vergangenen Jahr konnte die Crew rund 3.000 Menschen aus Seenot retten. In diesem Jahr will die Phoenix vor allem vor Afrikas Küsten kreuzen. Um zu retten, was zu retten ist.