Thomas Fischer ist Bundesrichter in Karlsruhe und schreibt für ZEIT und ZEIT ONLINE über Rechtsfragen. Weitere Artikel seiner Kolumne finden Sie hier – und auf seiner Website.

Zwei Fälle, akademisch

Nehmen wir einmal, lieber Leserinnen und Leser, folgende Fälle an: 

Fall 1, Variante eins: Sie wohnen auf Straßenseite A, Hausnummer 10, sechster Stock. Ihr auf Straßenseite B, Hausnummer 11, wohnender Nachbar teilt Ihnen per E-Mail mit, er beabsichtige, bei Gelegenheit einmal zu versuchen, die Straße mit verbundenen Augen ohne Balancier-Hilfe auf einem zu Ihrem Balkon gespannten Seil zu überqueren, um berühmt und reich zu werden.

Variante zwei: Ihr Nachbar teilt Ihnen mit, er werde dies morgen Abend gegen 23.00 Uhr versuchen, das Seil zu Ihrem Balkon habe er bereits spannen lassen. 

Variante drei: Wie Variante zwei, aber Sie wissen zusätzlich, dass Ihr Nachbar 72 Jahre alt, übergewichtig und ein bisschen verrückt ist. Und dass er außerdem an Höhenangst leidet.

Sie denken sich: Soll er doch! Wenn alles gut geht, hat er Glück gehabt. Am Ereignisabend begeben Sie sich frühzeitig außer Haus. Dies ist die Variante, die das Leben und die Hoffnung schreiben. Da der dicke Nachbar – wie von allen erwartet – aus dem sechsten Stock herunterfällt und dabei zu Tode kommt, geht der Schlamassel los: Wer ist schuld? Bei dieser Prüfung wird der Schatten eines Verdachts früher oder später unweigerlich auf Sie fallen: Hätten Sie das Unglück nicht verhindern können, vielleicht müssen?

Fall 2: Wieder wohnen Sie Hausnummer 10. Eine außerirdische Alien-Macht hat in der Mitte der Straße mit intergalaktischen Laserkanonen eine zwei Kilometer tiefe Schlucht aufgeschnitten, unten kocht Schwefelsäure. Alle Brücken sind vernichtet. Seither haben die Menschen auf Seite B nichts mehr zu essen, weil sich sämtliche Supermärkte auf Seite A befinden. Am Montag, Dienstag und Mittwoch stürzen vor Ihrem Fenster jeweils 10 ausgehungerte Bewohner der Straßenseite B beim Versuch ab, den Abgrund durch Sprünge oder mit selbst gebastelten Fluggeräten zu überwinden. Sie sind nach drei Tagen schon sehr genervt von den Todesschreien und denken: Würde man denen ein Seil zuwerfen, würden sie es schaffen. Da Sie aber keine Lust haben, ein Seil zu kaufen und die hungrigen Nachbarn zu verköstigen, schließen Sie für den Rest der Woche die Jalousie.

Im Fall eins und im Fall zwei: Eine Woche später erscheinen zwei Kommissare an Ihrer Wohnungstür und teilen Ihnen mit, Sie seien des Mordes durch Unterlassen verdächtig. Was sagen Sie jetzt?

Mittelmeer, Moral und Speisefische

Ein Kollege ist kürzlich nach Korfu gereist: Mal eine Woche ausspannen. Sehr schöne Surf-Strände im Norden. Um diese Jahreszeit auch nicht zu überlaufen! Die Griechen dort: Freundlich, billig, einsichtig. Fisch gegrillt köstlich, wenn frisch. Nehmen wir zum Beispiel die Goldbrasse oder den Steinbeißer mit kaltgepresstem Olivenöl mit leichten Zitronen- und Nussaromen, optimal natürlich vom eigenen Baum. Wir bevorzugen das frisch ausgelöste Filet mit kleinen Kartoffeln, vorgegart und kurz rundum goldgelb in Meersalzbutter angebraten, mit einem Hauch von Thymian und dem Geschmack des Lichts. Ach, überhaupt: dieses Licht des Südens!

Korfu ist übrigens von Otranto ungefähr so weit entfernt wie Pantelleria von Kelibia oder Lampedusa von Monastir. Und von Albanien nach Korfu schaffen es Ironman-Absolventen im Notfall auch im Neopren-Anzug.

Man muss, liebe Leserinnen und Leser, mit dem Schlimmsten rechnen. Nehmen wir die Dorade, oder den Roten Thunfisch: Was fressen diese Tiere? Sie schwimmen im Mittelmeer. Da kommen Flüsse an wie der Nil, die Rhone, der Tiber und der Ebro. Weiß man, was da drin ist? Der Ablauf unseres Lieblingsmeers bei Gibraltar funktioniert auch nicht so richtig. Und jetzt auch noch dies: 800 Afrikanische Kadaver pro Woche! Das sind, selbst bei durchschnittlich 65 unterernährten Kilogramm, immerhin 52 Tonnen Menschenfleisch pro Woche. Kein Wunder, dass der Blauflossenthun triumphiert und die Dorade sich fühlt wie die Made im Speck.

Die Frage für den Gourmet ist nun: Lässt sich so ein Geschmack überhaupt noch mit den herkömmlichen Thymian-Züchtungen überdecken? Könnte Kreuzkümmel darüber hinweg helfen?

Zugleich muss Verständnis für die Doradenindustrie gefordert werden. Alles andere wäre ungerecht: Selbst der Aal, der seit Jahrhunderten im Hafenbecken unsere Fäkalien frisst, hat sich unauffällig wieder auf die Liste von Gourmet-Versendern gerettet. Da wird doch wohl der Lieblingsfisch der deutschen "Gute-Italiener"-Kunden (Solle ische mache eine schöne Teller mit eine bisse Fische? Eute ische abe eine superfrische Dorade…) noch den einen oder anderen ertrunkenen Afrikaner vertilgt haben dürfen!