Flüchtlinge, vor allem Flüchtlingskinder, gehören in der Türkei vielerorts schon seit Jahren zum Stadtbild. Besonders seit dem Ausbruch des syrischen Bürgerkrieges sieht man sie überall. Nicht nur im Osten des Landes, in Şanlıurfa oder Gaziantep, sondern auch in Istanbul. Neu ist, dass auffällig viele von ihnen keine Schuhe mehr tragen. Zum Glück ist es jetzt wärmer.

Mittlerweile sollen 1.650.000 syrische Flüchtlinge im Land sein, viele Beobachter halten allerdings zwei Millionen für die wahrscheinlichere Zahl. Laut UNICEF ist die Hälfte dieser Flüchtlinge unter 18 Jahre, ein Drittel von ihnen im schulpflichtigen Alter. Etwa 200.000 Menschen leben nach einem Report des türkischen Katastrophenamtes von 2013 in staatlichen Aufnahmelagern, von denen es 20 in zehn Städten gibt. Die restlichen leben, nun, überall. Wohlhabende Syrer in normalen Wohnungen, arme auf der Straße, in Baracken, wer weiß wo. 

Diese Zahl der syrischen Flüchtlinge (und es sind ja bei Weitem nicht die einzigen – Istanbul ist ein Sammelbecken für alle, die nach Europa weiter wollen, aus Afghanistan, Iran, Pakistan … ) übertrifft nur noch der Libanon: Hier leben derzeit mehr als 1,2 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge – bei einer einheimischen Bevölkerung von etwa vier Millionen. "Auf deutsche Verhältnisse hochgerechnet, hieße das: Über 24 Millionen Flüchtlinge", schrieb meine Kollegin Andrea Böhm, die in Beirut lebt, kürzlich in unserer monothematischen Ausgabe über die Flüchtlingsfrage ("Was wollen wir tun?", Nr. 17/2015). Die Türkei ist mittlerweile unter den Top-Ten der Länder der Welt, in denen sich die meisten Flüchtlinge befinden. Die Regierung hat seit Beginn des Bürgerkriegs im Nachbarland eine Politik der "Offenen Grenze" für flüchtende Syrer betrieben. 

Meine Kollegin Onur Burçak Belli hat sich vor Kurzem die Flüchtlingskinder genauer angeschaut, in Istanbul, Ankara, Adana, Gaziantep und einigen anderen türkischen Städten (für alle, die Türkisch können, hier der sehr lesenswerte Text). Sie fand heraus, dass die Kinder oft zu den Ernährern der Familien werden. Sie verkaufen Zigaretten, Süßigkeiten, Wasser, Taschentücher, sie arbeiten auf Baustellen, als Müllsammler, in Textilwerkstätten oder auf dem Feld. Onur Burçak traf bei ihren Recherchen auf einen Jungen, der für elf Stunden Feldarbeit 33 Lira bekam, das sind etwa 11 Euro. Ein Euro pro Stunde also. Wahrscheinlich ist, dass dieser Betrag in anderen Bereichen noch unterboten wird. Kinderarbeit ist kein neues Phänomen in der Türkei, zu den türkischen und kurdischen Kinderarbeitern kommen nun eben die syrischen dazu. Sie sind traumatisiert, sprechen kaum Türkisch, sind oft krank.

Die andere Seite ist, dass sich bei einigen Türken Unmut über die Flüchtlinge breit macht. Die Spannungen zwischen Einheimischen und Syrern wächst, wie vor einigen Tagen in Şanlıurfa, wo eine Gruppe von Männern, die gegen syrische Flüchtlinge demonstrieren wollte, drei Syrer angriff und einen mit einem Messer verletzte. Fünfzehn Personen wurden festgenommen.

Der Oppositionsführer will die Syrer loswerden

Es gibt Erzählungen über die syrischen Flüchtlinge, die Verschwörungstheorien sehr nahe kommen. In der Stadt Kilis, das ebenfalls an der Grenze zu Syrien liegt, gebe es kaum noch Türken, heißt es, nur noch Syrer. Die Syrer nehmen uns die Arbeitsplätze weg, sie verderben die Preise. Die AKP-Regierung gibt ihnen sofort die türkische Staatsbürgerschaft, damit sie das nächste Mal AKP wählen.

Man könnte jetzt sagen: In einem Land, in dem 22 Prozent der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze leben, die Arbeitslosigkeit bei zehn Prozent liegt und fast jeder Schulden hat, waren Spannungen abzusehen. Hier und da greifen Politiker den Unmut der Bürger im derzeitigen Wahlkampf (am 7. Juni wird ein neues Parlament gewählt) auf. Vor einigen Wochen sagte Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der republikanischen Partei CHP, wenn er an die Macht komme, werde er die Syrer in ihr Land zurückschicken. Er kritisierte auch, dass die Regierung Erdoğan so viel Geld für die Flüchtlinge ausgegeben hätte. Die Lage der Flüchtlinge zu instrumentalisieren – das war neu. Zumindest auf diese Weise. Die AKP-Regierung instrumentalisiert sie auch, indem sie nicht müde wird, zu betonen, dass es die Pflicht der Türkei sei, den muslimischen Schwestern und Brüdern zu helfen.