ZEIT ONLINE: Herr Bittner, das Ozonloch über der Antarktis hat sich so weit ausgebreitet wie lange nicht. Derzeit nimmt es eine Fläche größer als der nordamerikanische Kontinent ein. Was ist passiert? Es hieß doch, die Ozonschicht in der Erdatmosphäre erhole sich seit Jahren...

Michael Bittner: Wir waren sehr überrascht, als wir bei der Auswertung der Satellitenbeobachtungen über dem Südpol ein derart gigantisches Ozonloch sahen. Seit Ende der 1970er Jahre wird die Verteilung dieser Sauerstoffverbindungen (O3) über der Antarktis mit Satelliten überwacht. Erst ein Mal seit der Aufzeichnungen war die Ausdehnung der ausgedünnten Ozonschicht größer: 2006 erstreckte sie sich über etwa 27 Millionen Quadratkilometer. 

ZEIT ONLINE: Heißt das, die Ozonschicht erholt sich gar nicht?

Bittner: Wir gehen weiterhin davon aus, dass sich die Ozonschicht seit dem Verbot ozonzerstörender Substanzen nun allmählich erholen wird. Die aktuelle Situation fällt aber aus dem Rahmen.

ZEIT ONLINE: Wie dramatisch ist das für das Klima und die Gesundheit?

Bittner: Auswirkungen auf das Klima wird das erst einmal nicht haben – das verändert sich in einem viel größeren Zeitrahmen. Das große Ozonloch dieses Jahr ist erst einmal ein Sonderereignis – ausgelöst durch besondere Störungen der Luftmassenströme um den Südpol. Langfristig rechne ich weiterhin mit einer Erholung der Ozonschicht. Jedenfalls nach jetzigem Stand der Forschung. Gesundheitlich dürfte die dünne Ozonschicht auf der Südhalbkugel die Menschen in Australien und Neuseeland bald betreffen: Dort herrscht dann besondere Sonnenbrandgefahr, weil der natürliche UV-Schutz aus der Atmosphäre fehlt.

ZEIT ONLINE: Im Laufe des Jahres verändert sich das Ozonloch immer. Was passiert dabei?

Bittner: In jedem Winter, wenn es über dem Südpol keine Sonneneinstrahlung mehr gibt und die polare Nacht anbricht, fallen die Temperaturen sehr stark ab. Das sind ideale Bedingungen für die Bildung von ozonzerstörenden Substanzen, an denen maßgeblich die mittlerweile verbotenen, aber in der Atmosphäre extrem langlebigen Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) ihren Anteil haben. Sie reichern sich während der Polarnacht an. Dann, wenn die ersten Sonnenstrahlen mit Beginn des Frühlings über der Antarktis diese Luftmassen erreichen, werden diese ozonabbauenden Stoffe schlagartig freigesetzt und bauen das Ozon rasant ab. Die Folge ist die Bildung eines gigantischen Ozonlochs über dem Südpol.

ZEIT ONLINE: Und das schließt sich dann wieder im Laufe des Jahres.

Bittner: Genau. Dieser Vorgang wiederholt sich nun schon seit mehr als 30 Jahren. Doch jedes Jahr ist anders, das Ozonloch jedes Mal unterschiedlich groß. Einfach erklärt hängt es davon ab, wie ungestört sich die Luftmassen in dem polaren Wirbel abkühlen können.

ZEIT ONLINE: Was ist in diesem Jahr die Ursache für das Riesenozonloch?

Bittner: In diesem Jahr hat der Ozonabbau vergleichsweise spät eingesetzt. Unsere ersten vorläufigen Analysen der Satellitendaten weisen darauf hin, dass es in der Stratosphäre im August besonders starke Strömungen gab. Das ist der Höhenbereich von etwa 10 bis 45 Kilometern über der Erde – dort, wo sich unsere Ozonschicht befindet. Die Strömungen dort haben Luftmassen aus niedrigeren geografischen Breiten (die sind in der Regel relativ warm und ozonreich) in Richtung Südpol gepumpt. Kein Wunder also, dass sich das Ozonloch zuerst gar nicht so schnell ausdehnte. Dann, im letzten Drittel des August, riss dieser "Pumpeffekt" ab; der polare Wirbel war nun ungestört – das zeigt sich an seiner fast kreisrunden Gestalt auf Satellitenaufnahmen – und die ozonzerstörenden Prozesse konnten von da an praktisch ungehindert in diesem polaren Kessel ablaufen.

Erst im Mai hatten Forscher prognostiziert, Ozonlöcher über der Antarktis würden im Laufe der kommenden Jahre kleiner, wie diese Animation der Nasa zeigt. An der langfristigen Erholung der Ozonschicht ändert der Ausreißer in diesem Jahr nach derzeitigem Forschungsstand nichts.

ZEIT ONLINE: Was genau ist der polare Wirbel?

Bittner: Der Umstand, dass es um die Pole herum kälter ist als in Richtung Äquator, führt wegen der Erdrotation dazu, dass sich ein starker Wind einstellt, der quasi kreisförmig polare Breiten umströmt. Diese Luftströmung – wir sprechen von einem Jet – kann vergleichsweise schnell werden, sodass es nicht mehr ohne Weiteres zu einem Luftaustausch zwischen hohen und niedrigen geografischen Breiten kommt. Diese "Mauer" macht es zum Beispiel erst möglich, dass es in der Atmosphäre über dem Südpol so extrem kalt wird, wie es nötig ist, damit sich ozonzerstörende Substanzen bilden.

ZEIT ONLINE: Und was kann diesen Teufelskreis fürs Ozonloch durchbrechen?

Bittner: Vor allem Störungen des Jets. Denn der saust nicht immer kreisförmig und gleichmäßig um den Pol, sondern mäandert häufig wie ein Fluss. Auf dem Weg um einen Breitengrad kann man wiederkehrende Muster erkennen – meist sind es etwa fünf bis sechs solcher Mäander pro Erdumwehung. Die Ursache für solche physikalischen Störungen des Jets sind planetarische Wellen in der Atmosphäre. Am Ende strömen die Luftmassen also nicht mehr parallel zu den Breitenkreisen um den Südpol, sondern es kann auch Luft Richtung Pol oder Äquator fließen. Wärmere und vergleichsweise ozonreiche Luftmassen können so in die kalten, ozonärmeren Polregionen einströmen und das Ozonloch wieder langsam schließen.

ZEIT ONLINE: Und was genau hat das mit dem Klimawandel zu tun?

Bittner: Der kommt genau hier ins Spiel. Wenn sich der Temperaturgegensatz zwischen höheren und niedrigeren Breiten verringert – zum Beispiel, weil am Pol das Eis abschmilzt –, führt dies nach unserem heutigen Verständnis dazu, dass sich die Aktivität solcher planetarischen Wellen verändern dürfte. Stärkere planetarische Wellen würden also zum Beispiel dem Ozonloch das Leben schwerer machen, um es einmal plastisch auszudrücken. Aber die Konsequenzen einer veränderten planetarischen Wellenaktivität reichen freilich viel weiter und betreffen zum Beispiel auch die Ausbildung von extremen Wetterlagen. Diese Aspekte sind Gegenstand der gegenwärtigen Forschung.

ZEIT ONLINE: Die Ozonschicht schützt uns, wie genau?

Bittner: Das Ozon in der Stratosphäre ist – im Gegensatz zum Ozon bei uns an der Oberfläche – für uns Menschen ein Segen. Obwohl Ozon an keiner Stelle der Atmosphäre mehr als ein Hunderttausendstel ausmacht (es zählt zu den Spurengasen), reicht diese kleine Menge aus, um aus dem Sonnenlicht das für uns schädliche ultraviolette Licht abzuschirmen. Diese energiereiche UV-Strahlung kann Körperzellen schädigen. In Australien oder Neuseeland weiß das jeder: Am Ende des dortigen Frühlings, wenn der Jetstream durchlässig wird, erreichen ozonarme Luftmassen vom Pol bewohnte Gebiete, wo die UV-Belastung dann ansteigt. Kinder lernen dort: Besonders in dieser Zeit sollte man lange Hemden tragen und Sonnencremes benutzen.