Tonnenschwere Felsmassen drohen auf die Bundesstraße 31 am Bodensee zu stürzen. Sofort ordnet das Landratsamt die Sperrung der Strecke an und lässt Schilder aufstellen: "Durchfahrt verboten. Lebensgefahr!" Zusätzlich spannen Polizeibeamte ein rotweißes Band mit der Aufschrift "Polizeiabsperrung" quer über die Fahrbahn.

Doch das beeindruckt offenbar nur wenige Autofahrer, die an jenem Morgen auf der B 31 unterwegs sind. Warum soll man wegen ein paar Felsbrocken weite Umwege fahren, denken viele. Einer steigt aus, reißt das Absperrband weg und gibt Gas. Hunderte folgen ihm und ignorieren damit sowohl die Verbotsschilder als auch das hohe Risiko, das auf der Straße besteht. Der eigene Zeitvorteil ist ihnen wichtiger als die Verkehrsvorschrift.

Ähnlich sieht es auf der Autobahn 1 bei Köln aus. Weil die Leverkusener Rheinbrücke einzustürzen droht, wurde sie im Frühjahr 2014 für den Schwerverkehr gesperrt. Das dürfte sich in der Branche längst herumgesprochen haben, doch bis heute hindern weder Radiodurchsagen noch Verbotsschilder Lkw-Fahrer daran, über die marode Brücke zu fahren. Die automatische Gewichtskontrolle hat innerhalb eines Jahres mehr als 110.000-mal Alarm ausgelöst, weil Lastwagen auf der Rheinbrücke unterwegs waren. Das sind rund 300 Verkehrsverstöße pro Tag.

Nicht minder eindrucksvoll sind die Zahlen, die Autobahnpolizisten kürzlich nach einer Kontrolle auf der Autobahn 81 veröffentlichten. Zwischen Rottweil und Villingen-Schwenningen hatten sie in nur sechs Stunden mehr als 1.000 Autofahrer erwischt, die mit bis zu 140 km/h durch eine Baustelle gerast waren. Mit anderen Worten: In jeder Minute hat es hier dreimal geblitzt.

"Oft regiert nur noch das Recht des Stärkeren"

Beispiele für den Alltag auf Deutschlands Straßen, für einen unübersehbaren Trend: Verkehrsregeln haben oft nur noch theoretischen Charakter. Vorschriften werden systematisch missachtet oder zum eigenen Vorteil ausgelegt. Statt Fairness macht sich Rücksichtlosigkeit breit. Ignoranz verdrängt Verantwortung, Vernunft weicht Rechthaberei. "Bei manchen Menschen tobt sich der private Wahnsinn aus. Nur ich zähle, nur meine Zeit", beschreibt Kurt Bodewig, Präsident der Deutschen Verkehrswacht, die Situation und urteilt: "Überheblichkeit, anmaßendes Verhalten und rohe Respektlosigkeit produzieren die täglichen Bilder auf den deutschen Straßen."

Zwar gibt es keine wissenschaftlichen Untersuchungen über das Phänomen Verkehrsmoral, doch ein Blick in die Statistik der Verkehrssünderkartei, die seit gut einem Jahr Fahreignungsregister heißt, lässt durchaus erkennen, was sich seit einiger Zeit auf den Straßen abspielt: Rund 4,5 Millionen der ans Kraftfahrtbundesamt (KBA) gemeldeten Verkehrsverstöße werden jährlich mit dem zweifelhaften Prädikat "wahrnehmbare Rücksichtslosigkeit" gekennzeichnet. Es soll laut der Behörde ein Indikator für das "Klima im Straßenverkehr" sein.

"Das erlebe ich jeden Tag", beschreibt Arnold Plickert von der Gewerkschaft der Polizei (GdP) die Situation. "Wenn ich beispielsweise mit 80 km/h durch eine Autobahnbaustelle fahre, werde ich regelmäßig von hinten angeblinkt und genötigt, Gas zu geben." Als weiteres Beispiel nennt der stellvertretende GdP-Vorsitzende "die vielen Lkw-Fahrer, die rücksichtslos zum Überholen ausscheren". Die Verkehrsmoral verschlechtere sich erheblich, sagt Plickert. "Oft regiert nur noch das Recht des Stärkeren", kritisiert er das "Ellenbogenverhalten" mancher Autofahrer, das seiner Meinung nach auch für die Zunahme schwerer Unfälle mitverantwortlich ist.

Ein so düsteres Lagebild will Ulrich Chiellino vom ADAC allerdings nicht zeichnen. "Die Mehrzahl der Autofahrer hält sich an die Verkehrsregeln", sagt der Verkehrspsychologe und spricht von "Extremfällen", die im dichten Verkehr immer öfter zu Konfliktsituationen führten. Insgesamt bestehe hierzulande bei der Verkehrsmoral "aber durchaus noch Luft nach oben", räumt Chiellino ein.