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"Mit der ganzen Härte des Rechtsstaats" werde der Staat gegen Menschen vorgehen, die Flüchtlinge angreifen. Das versprach Angela Merkel noch im September. Nun zeigt sich: Das Versprechen war leer. Fast jeden Tag attackieren Gewalttäter inzwischen Flüchtlingsunterkünfte. Mal fliegen Pflastersteine, mal Molotowcocktails, mal werden Wohnungen angezündet oder geflutet. Erschreckend oft sind Ermittler und Justiz hilflos, bleiben die Täter unbehelligt.

Ein Rechercheteam von ZEIT ONLINE und DIE ZEIT ist 222 gewalttätigen Angriffen auf Flüchtlingsunterkünfte in diesem Jahr nachgegangen. Es sind alle Attacken, bei denen Menschen zu Schaden gekommen sind oder zu Schaden hätten kommen können. Das Ergebnis: Nur in vier Fällen haben Gerichte bisher Täter verurteilt, in weiteren acht Fällen wurde Anklage erhoben. Das sind gerade einmal fünf Prozent aller Angriffe. In weniger als einem Viertel aller Fälle konnte die Polizei überhaupt einen Tatverdächtigen ermitteln. Fast alle Taten sind also bis heute nicht aufgeklärt. Elf Prozent der Verfahren wurden mittlerweile sogar ganz eingestellt. Und das, obwohl schon 104 Menschen bei Übergriffen verletzt wurden.

ZEIT ONLINE und ZEIT haben aus der Statistik des Bundeskriminalamts, die 747 Straftaten gegen Flüchtlingsunterkünfte auflistet, alle kleineren Delikte aussortiert. Schmierereien, Propagandadelikte und Pöbeleien wurden beiseite gelassen und die schweren Fälle dann einzeln geprüft. So ist die erste belastbare Analyse entstanden, wie der deutsche Rechtsstaat auf die schlimmsten Gewalttaten reagiert. Das Ergebnis ist erschütternd.

Vor allem Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte sind ein gefährliches Massenphänomen geworden. Von Januar bis November ist die Zahl der Angriffe stark gestiegen.  

Die Täter nehmen keine Rücksicht darauf, ob Menschen verletzt werden könnten oder sterben. Von den 93 Brandanschlägen in diesem Jahr richtete sich fast die Hälfte gegen bewohnte Unterkünfte. Es ist ein glücklicher Zufall, dass bisher kein Flüchtling getötet wurde. Gleichzeitig ist die Zahl der Anschläge auf unbewohnte Heime zuletzt angestiegen. 

Die Recherchen zeigen auch: Die Aufklärungsquote für die Verbrechen ist – Stand Ende November – weitaus niedriger als bei vergleichbaren Delikten. Schwere Brandstiftung wird in Deutschland normalerweise in mehr als der Hälfte aller Fälle aufgeklärt. 

Die Angriffe finden nicht nur im Osten des Landes statt. Sie sind längst ein bundesweites Phänomen, und die Aufklärung gelingt im Westen auch nicht häufiger als im Osten. In Baden-Württemberg zum Beispiel ist noch kein einziger schwerer Angriff auf eine Flüchtlingsunterkunft aus diesem Jahr aufgeklärt. Dennoch liegt die Zahl der Fälle in Sachsen am höchsten – sowohl absolut als auch gemessen an der Bevölkerung. 

Warum also verlaufen die Ermittlungen so schleppend? Es gibt Gründe, die in der Natur der Taten liegen. Die meisten Angriffe geschehen nachts, oft sind die Täter schnell verschwunden. Molotowcocktails werden aus vorüberfahrenden Autos geworfen, Stahlkugeln auf Fenster gefeuert, Wasserhähne in leerstehenden Gebäuden aufgedreht. Brände werden so gründlich gelegt, dass das Feuer alle Spuren zerstört. 

Zum Themenschwerpunkt "Gewalt gegen Flüchtlinge" finden Sie in der ZEIT Nr. 49 vom 03.12.2015 eine ausführliche Analyse.

Manche Unterkünfte liegen zudem abseits, sodass kein Zeuge die Tat beobachten kann. Oft stoßen die Ermittler auch auf eine Mauer des Schweigens, wenn sie nach den Tätern fragen. Wenn die Gebäude noch unbewohnt sind, scheinen viele Nachbarn die Taten zu billigen. Wenn sich dann niemand zur Tat bekennt, der Täter nirgends mit der Tat prahlt, laufen die Ermittlungen ins Leere. 

Doch nicht alles lässt sich mit dem Wesen der Taten erklären. Dort, wo Polizei und Staatsanwaltschaft erfolgreich waren, ermittelten sie oft mit hohem technischen und personellen Aufwand. An vielen Orten fehlt es an Beamten, um die Täter dingfest zu machen. Zuletzt wurde die Zahl der Polizisten vor allem im besonders betroffenen Ostdeutschland stetig kleiner.

Staatsanwälte klagen zudem, dass es zu wenige Brandsachverständige gibt, die die Täter überführen könnten. Sicher ist: Wenn der Staat wirklich mit der "ganzen Härte des Rechtsstaates" gegen die Täter vorgehen wollte, müsste er dramatisch mehr tun.