Liebes Pflichtbewusstsein!

Gestern hat die Freiheit bei mir angerufen. Ob ich auf einen Rotwein mit losgehe oder auf zwei. Aber ich konnte nicht. Es war schon ziemlich spät. Wenn ich nicht wenigstens sechs Stunden schlafe, komme ich morgens gar nicht mehr hoch. Also habe ich sie vertröstet, mal wieder. Wegen Dir.

Was ist da eigentlich los? Mir geht’s doch gut: tolle Frau, tolle Kinder, toller Job. Doch die Wahrheit ist: Es ist die Hölle. Der letzte Satz stammt nicht von mir. Ich habe ihn von Marc Brost und Heinrich Wefing abgeschrieben. Weil er das ganze Drama zusammenfasst, das sie jüngst in der ZEIT beschrieben haben. Nämlich dass es auch mit bestem Willen und übermenschlicher Disziplin nicht klappt mit der Vereinbarkeit von Karriere und Familie.

Genau so ist mein Leben. Und Du bist schuld.

Deine Methode ist perfide. Heimlich hast Du Dich in mein Leben eingeschlichen, da gab es mich noch gar nicht. Ganz unschuldig hast Du getan. Pflicht, das kommt ja eigentlich von pflegen. Später haben die Grimms dann in ihr Wörterbuch geschrieben: "Die Pflicht lehrt das Fortführen von etwas, das einmal begonnen wurde, bis es vollendet ist."

Klingt groß. Das müssen Preußen und Protestanten auch gedacht haben, als sie auf Dir eine ganze Weltanschauung bauten. "Die Pflicht ruft!" Da weiß jeder sofort, was Sache ist. Und wenn die Nazis nicht solchen Schindluder mit der Sprache getrieben hätten, dann würde uns bei diesem Satz heute wohl immer noch nicht gleich schlecht.

Ich werde Deine Tarnnamen offenlegen

Aber weg bist Du deshalb noch lange nicht. Du hast nur gelernt, Dich sehr gut zu tarnen. Wir fallen immer wieder darauf herein. Aber jetzt nicht mehr. Ich werde Deine Tarnnamen offenlegen. Wollen wir sehen, wie groß Deine Macht danach noch ist.

Verantwortung. Das war sehr geschickt gewählt. Untertanen hatten Pflichten, so war es früher. Bürger dagegen tragen Verantwortung. Sie können frei entscheiden und handeln, denken sie. Und sie haben Rechte, die sie schützen.

Doch dabei vergessen sie, dass sie nicht nur Bürger sind, sondern auch Menschen. Die sind nicht immer so frei und selbstbestimmt, wie wir uns das wünschen. Vor allem nicht am Anfang ihres Lebens. Wieder nicht, sobald ihr erstes Kind geboren wird. Nochmal nicht, wenn ihre Eltern alt und schwach werden. Also fast nie.

Denn jedes Mal kommen Moral und Gesetz zusammen, die aus Freiheit Pflicht machen. Die Moral sagt uns, dass wir uns um dieses kleine Wesen oder jenen alten Menschen zu kümmern haben, weil sie ohne uns nicht lebensfähig wären. Sie produziert Schuldgefühle, wenn wir fürchten, sie zu vernachlässigen. Das Gesetz wiederum droht uns mit Strafe, wenn wir's doch tun. Dazu kommt noch der tägliche Streit, wer jetzt zuständig ist, fürs Wickeln, für die Wäsche, fürs Fahrradreparieren.

Zuständigkeit, auch so ein Tarnwort. Zuständig zu sein überwältigt jede Arbeitszeitregelung. Oft muss ich es nicht einmal sein, es reicht schon, wenn ich mich zuständig fühle. Denn so frei ich meinen Job auch gestalten kann, am Ende hat auch diese Freiheit einen Preis: Ich kann für das Ergebnis meiner Arbeit zur Verantwortung gezogen werden. Mit der Anzahl der Menschen und Aufgaben, für die ich zuständig bin, steigen die Kosten, die anfallen, wenn es nicht gut läuft.

Wie einer sein müsste, der das dauerhaft aushalten kann, hat Erich Kästner schon 1931 aufgeschrieben, in seinem Moralisten-Roman Der Gang vor die Hunde: "Wer für andere da sein will, der muss sich selbst fremd bleiben. Er muss wie ein Arzt sein, dessen Wartezimmer Tag und Nach voller Menschen ist, und Einer muss mitten darunter sitzen, der nie an die Reihe kommt und nie darüber klagt: das ist er selber."