In der Geschichte eines Fußballvereins, mag sie Jahrzehnte dauern oder Jahrhunderte (kleiner Gruß nach Leipzig), gibt es vielleicht ein paar Monate, in denen er schwebt. In denen er eine Stadt und eine Region betört, in denen niemand mehr über etwas anderes redet, alles andere unwichtig wird. Oft bemerkt man diese Zeit erst im Rückblick. Wenn der Alltag wieder da ist, fällt auf, dass etwas verloren gegangen ist. So eine Zeit herrscht gerade in Magdeburg.

Man nennt diese Zeit Euphorie, aber das Wort wird so häufig benutzt und ausgehöhlt, man bräuchte eigentlich ein neues. Denn diese Momente sind selten. So selten, dass man auch als neutraler Fußballinteressierter lange suchen muss, um sie zu finden. Momente, in denen man das Gefühl hat, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. In denen man von allen Spielen, die gerade auf der Welt gespielt werden, kein anderes sehen möchte. Wer dieses Gefühl haben möchte, muss in diesen Wochen zu den Spielen des 1. FC Magdeburg fahren.

Man spürt es schon an den Menschen, die zum Stadion strömen. Es sind viele, rund 20.000, aber das ist es nicht. Es ist vor allem die Art, wie sie zum Stadion gehen. Strammen Schrittes, sie rennen fast, voller Vorfreude. Kein Trödeln, kein Zögern, keine Ablenkung. Man glaubt es zu spüren, die Leute wollen so schnell wie möglich zu ihrem Verein.

Der 1. FC Magdeburg ist im Sommer in die Dritte Liga aufgestiegen, mit den Würzburger Kickers und der Zweiten Mannschaft von Werder Bremen. Nur: Die Würzburger Kickers und die Zweite Mannschaft von Werder Bremen haben noch nie den Europapokal gewonnen und sind auch nicht dreimal Meister und siebenmal Pokalsieger geworden. Magdeburg schon, und das spürt man in jeder Sekunde des Abends, an dem ein 2:0 über den Chemnitzer FC die Tabellenführung bedeuten wird.

Am Stand, wo das Knobi-Baguette für 2,50 Euro verkauft wird, hängen vergilbte Stoffwimpel, die die Spitzenduelle der DDR-Oberliga ankündigen. Auf den Bierbechern steht etwas vom FDGB-Pokalsieger 1964, 1965, 1969, 1973, 1978, 1979, 1983 (FDGB = Freier Deutscher Gewerkschaftsbund). Wer den Becher dreht, liest, dass der 1. FC Magdeburg 1974 den Europapokal der Pokalsieger gewonnen hat. Dem damaligen Trainer Heinz Krügel stifteten Fans ein Denkmal vor dem Stadion. Im vergangenen Jahr wurde es enthüllt, seitdem wird der Matt Busby aus Oberplanitz vor dem Spiel von abergläubischen Fans getätschelt.

Die Geschichte steckt auch in den Gesängen. Stolz sind die Fans auf die Vergangenheit und neugierig auf die Zukunft. Stolz aber auch, weil sie es geschafft haben, nach einem Vierteljahrhundert im Amateurfußball wieder auf die Beine zu kommen, trotz Osten. Hier, in die Dritte Liga, gehören sie hin, mindestens.

Während in anderen Stadien ein Häufchen Ultras für Stimmung sorgt und der Rest der Zuschauer sich höchstens mal zum Torjubel von den Sitzen erhebt, während anderswo der Pöbel steht und die Lokalprominenz sitzt, sind die Menschen in Magdeburg kaum zu unterscheiden. Wer auf der Nordtribüne steht, könnte auch auf der Haupttribüne sitzen und umgekehrt. Alle machen mit.

Wenn es gilt, die Schals während Vereinshymne in die Luft zu recken, recken alle die Schals hoch. Auch die Haupttribüne. Wenn rhythmisch geklatscht wird, klatschen alle. Auch die Haupttribüne. Beim obligatorischen "Steht auf, wenn ihr Clubfans seid!", steht die Haupttribüne geschlossener und schneller auf als anderswo. Und vor dem Spiel singen alle zusammen das Magdeburger Lied mit dem unschlagbaren Refrain: "Ist denn die Elbe immer noch dieselbe/fragt sich der Dom und wundert sich" So laut, dass einem noch auf dem Nachhauseweg die Ohren klingeln.

Beim Torjubel fliegt das Bier durch die Luft. Überall bilden sich Jubelknäuel, einige fallen um. Es kommt vor, dass Vater, Mutter und der ältere Bruder auf dem jüngsten Spross zum Liegen kommen. Ein Fan hält sich Minuten später das Knie und verzieht das Gesicht. Verletzt beim Torjubel, in der Allianz Arena eher unwahrscheinlich.

Auf dem Platz: ein Innenverteidiger, der auch die Tür einer Großraumdisco übernehmen könnte; ein Torjäger, der ohne Körper spielt, aber trotzdem trifft, auch an diesem Abend. Sonst langer Hafer, harte Zweikämpfe. Die Zuschauer spielen mit, gewinnen den einen oder anderen Zweikampf für ihre Mannschaft. Die Spieler wissen das. Nach dem Spiel stehen sie vor der Nordtribüne, fassen sich von hinten an die Schultern und tanzen eine Polonaise. Die ganze Nordtribüne, nein, das ganze Stadion, macht es ihnen nach.

Es ist gerade eine besondere Zeit in Magdeburg. Sie wird bald vergehen. In ein paar Monaten, vielleicht auch erst in einem halben Jahr. Die Mannschaft wird sich im Mittelfeld der Liga einordnen, wo sie hingehört, Heimsiege in der neuen Liga werden keine Sensation mehr sein. Es wird wohl nicht mehr das ganze Stadion klatschen und singen, sondern nur noch das halbe. Und die Leute werden sagen: Weißt du noch, im Sommer 2015? Das ist normal, kein Problem. Bis dahin aber: Auf nach Magdeburg!