In der Bild am Sonntag schreibt der Bundesinnenminister einen Beitrag mit zehn Thesen "über eine Leitkultur für Deutschland". Warum tut er das? Will er den vielen Neuangekommenen helfen, Deutschland zu verstehen? Will er ihnen zeigen, dass sie hier willkommen sind, dass sie sich und ihre kulturellen Erfahrungen hier einbringen können? Will er ihnen Mut machen, dass sie sich hier ein Leben aufbauen können? Schrieb er den Text vielleicht, weil er darüber diskutieren möchte, welche Werte anderer Kulturen auch Deutschland und den Deutschen gut zu Gesicht stehen würden? Will er debattieren, was die deutsche Kultur überhaupt ausmacht?

Nein, das will er nicht. Der Bundesinnenminister hat den Text geschrieben, weil im September ein neuer Bundestag gewählt werden soll und der CDU-Minister sich vor der AfD fürchtet. Er hat ihn geschrieben, weil CDU, CSU und AfD sich das Wort Leitkultur in ihre Parteiprogramme gedruckt haben. Er hat ihn geschrieben, weil er glaubt, dass mehr Menschen, mehr Deutsche, seine CDU wählen werden, wenn er ein wenig über das Deutschsein philosophiert. Es ist zum Heulen.

Die Diskussion um die sogenannte Leitkultur hat in Deutschland bislang nur Wut und Zwist provoziert. Dieses Wort und dieser Streit haben in den vergangenen 20 Jahren niemandem genutzt, sie haben keine Menschen miteinander versöhnt, sie haben niemanden integriert, keinen kulturellen Fortschritt gebracht. Die sogenannte Leitkultur dient allein dazu, auszuschließen: Wir hier sind so – ihr da hinten seid es nicht. Wir haben – ihr nicht. Wer immer in den vergangenen Jahren von "Leitkultur" sprach, hat damit Gräben geschaufelt, statt sie zuzuschütten. Und genau das tut auch Thomas de Maizière.

Er möchte die "ungeschriebenen Regeln unseres Zusammenlebens" beschreiben und sie diskutieren, wie er mehrmals betont. Doch keine dieser Regeln stellt er dabei infrage. Wir haben, wir sind, wir legen Wert auf – so beginnen seine Sätze. Dabei könnten manche seiner Regeln es durchaus vertragen, infrage gestellt zu werden.

Der "Leistungsgedanke" beispielsweise, den de Maizière als dritten Punkt für typisch deutsch und für erhaltens- und fördernswert befindet. Sind es aber nicht gerade die Folgen dieser bedingungslosen Leistungsgesellschaft, die das Zusammenleben zerstören und die Integration verschiedener gesellschaftlicher Schichten verhindern? Ist der sogenannte Leistungsgedanke nicht nur eine heuchlerische Rechtfertigung für die enormen sozialen Unterschiede? Immerhin hat Deutschland ein Bildungssystem, das eben nicht Leistung fördert, sondern vor allem soziale Herkunft.

Oder der "aufgeklärte" Patriotismus, den de Maizière sich erträumt. Gibt es den in Deutschland überhaupt? "Ja, wir hatten Probleme mit unserem Patriotismus. Mal wurde er zum Nationalismus, mal trauten sich viele nicht, sich zu Deutschland zu bekennen", schreibt der Innenminister. Sinngemäß könnte man diese Worte auch übersetzen mit: Ja, wir hatten Probleme, mal waren wir Massenmörder, mal war uns das dann peinlich. Eine ziemlich verharmlosende Sicht auf die deutsche Geschichte.

Doch auch die Gegenwart gibt wenig Hoffnung. Diejenigen, die sich hier Patrioten nennen, beschimpfen auf Demos die Bundeskanzlerin und andere Politiker mit den schmähendsten Begriffen, die ihnen so einfallen – weil sie Flüchtlingen eine Heimat geben wollten. Oder sie fordern einen "Ethnopluralismus", der nichts weiter ist als der Wunsch, alle Fremden aus dem Land zu verbannen.

Mit seinem Text versucht de Maizière, eine homogene, geschlossene Kultur zu beschreiben, ja sie zu konstruieren. Dabei gibt es diese gar nicht. Arm und Reich sind sich gegenseitig im Denken und Fühlen schon so fremd, dass es mühsam ist, zwischen ihnen kulturell Gemeinsames zu entdecken. Gleichzeitig ignoriert der Text vieles, das hierzulande tatsächlich unselige Kultur ist.