Paris ist begeistert vom Gastspiel der Berliner Schaubühne und ihren Stars wie Nina Hoss. Regisseur Thomas Ostermeier wird als "génie" gefeiert. Wie machen die das nur?

Ein Mittwochvormittag Ende März, im Flugzeug: Nina Hoss, Star des deutschen Theaters und des deutschen Autorenfilms, die blonden Haare irgendwie zusammengesteckt, die Beine in einer bequemen Hose, Schal um den Hals, sitzt auf Platz 22 D und blättert still im Airline-Magazin. Es riecht nach Kaffee. In der letzten Reihe schläft Mark Waschke, deutscher Doppelgänger von Jude Law, der neue Berliner Tatort-Kommissar, Schaumstoffstöpsel im Ohr, den Kopf in den Nacken gelegt, die Sonnenblende ist heruntergezogen. Moritz Gottwald, 26, hochbegabter Jungschauspieler, sitzt zwischen den Reisenden, er trägt wie alle Menschen seines Alters enge Jeans, Turnschuhe, riesige Kopfhörer und zappelt mit den Streichholzbeinen.

1 — Lässt sich Erfolg exportieren?

Die Berliner Schaubühne reist nach Paris. Das Ensemble gibt dort Gastspiele der Inszenierung Die kleinen Füchse, des Stücks der amerikanischen Dramatikerin Lillian Hellman, das in den vierziger Jahren zu den erfolgreichsten Broadway-Stücken gehörte und dann in Vergessenheit geriet. Es geht um eine zerstrittene Familie und eine komplizierte Frau, gespielt von Nina Hoss. Das Ensemble bleibt elf Tage, jeden Abend bis auf einen ist Vorstellung. 34 Mitglieder des Ensembles werden in Paris sein, neun Schauspieler, ein Regisseur, die Souffleuse, Garderobieren, Beleuchter, Bühnentechniker.

Ausverkauftes Gastspiel in Paris: Die Schaubühne zeigt "Die kleinen Füchse" im Theater "Les Gémeaux". Thomas Ostermeier, Nina Hoss, Ursina Lardi und Thomas Bading im Video-Interview

In Berlin sind die Schaubühnen-Vorstellungen meistens ausverkauft, die Stücke, die inszeniert werden, scheinen dem Publikum aus dem Herzen zu sprechen. In Ibsens Volksfeind tragen die Figuren jene Karohemden, die man aus den Coffeeshops in Berlin-Mitte kennt. Hamlet wird in schneller, zeitgenössischer Sprache aufgeführt. Man könnte der Schaubühne vorwerfen, sie sei ein Theater, das die Berliner Geschmackselite bediene, jene Menschen, die man behelfsweise Hipster nennt und die dafür sorgen, dass viele, die nicht in Berlin wohnen, diese Stadt und ihre Szene nervig finden.

Wie kommt die Schaubühne also in der französischen Hauptstadt an, wo der Kulturgeschmack konservativer ist und man sich nicht so dafür interessiert, was die Berliner schick finden? Lässt sich der Erfolg exportieren?

Bühnenbild und Requisiten sind, in großen Holzkisten verladen, im Lkw von Berlin nach Paris gefahren worden. Ein Haufen Krempel wurde über den halben Kontinent transportiert. In den Holzkisten wurden zum Beispiel zwei Ledersessel verstaut, die Unterhosen, die die Schauspieler auf der Bühne tragen, die Kleenex-Tücher der Maskenbildnerinnen, Nina Hoss’ Badeschlappen, die sie in der Garderobe trägt, das Besteck, mit dem die Schauspieler auf der Bühne so tun, als würden sie essen.

Der Tourmanager hat drei Taxen an den Pariser Flughafen bestellt. Wer fährt mit welchem Taxi und mit wem? Diese Frage wird sich in den nächsten Tagen noch einige Male stellen. Wie kommen wir von hier nach dort, ohne uns zu verlieren – das ist bei allen Gruppenreisen eine wichtige Frage, also auch für das Starensemble der Berliner Schaubühne. Der Tourmanager zählt noch mal alle durch, dann geht es in Kolonne über die Autobahn in die Stadt hinein.

Ein paar Stunden später im Theater Les Gémeaux in Sceaux, einem bürgerlichen Pariser Vorort, wo in den nächsten Tagen die Vorstellungen stattfinden: Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter der Schaubühne und Regisseur der Kleinen Füchse, sitzt in der fünften Reihe des leeren Saals. Der Regieassistent bringt ihm ein Mikrofon und setzt sich in die Reihe hinter ihm. Das Stück ist in Berlin zwölfmal aufgeführt worden, Premiere war im Januar. Aber Ostermeier will hier in Paris eine richtige Probe, nicht nur einen Durchlauf, um die Räume kennenzulernen – als stünde die erste Vorstellung noch bevor.

Das Licht geht aus, die Musik geht an. Die Schauspieler betreten die Bühne. Während der Probe unterbricht Ostermeier immer wieder und gibt Anweisungen:
"Heb den Arm nicht so hoch."
"Geh nicht so übertrieben die Treppe rauf."
"Geh da rüber nach rechts, stell dich da hin."
"Oder doch lieber da hin."
Zwischendrin sagt er auch: "Sehr schön!" Er hat die lauteste Stimme von allen, auch ohne Mikrofon.

Als Thomas Ostermeier vor 15 Jahren an die Schaubühne kam, war er 31. Er brachte dem Haus den Neuanfang. Er führte zeitgenössische Dramatiker auf, und er wollte die Tradition des Mitbestimmungstheaters wiederbeleben. Alle sollten die gleiche Gage bekommen und ein Mitspracherecht haben, bis hin zu den Kartenabreißern. Berlin war damals eine Stadt in Partylaune, so viel politischen Geist war man von der jungen Generation nicht mehr gewohnt. Tatsächlich beschwerten sich die Schauspieler und Mitarbeiter dann bald, dass sie überhaupt kein Privatleben mehr hätten wegen der vielen Versammlungen. Ostermeier gab das Mitbestimmungstheater auf. Heute ist er eindeutig der Chef des Ladens.

Am Ende der vierstündigen Probe, es ist fast 23 Uhr, wirkt er wie ein Klassenlehrer freitags in der letzten Stunde. Die Schauspieler haben Hunger, weshalb sie sich nicht mehr an den Text halten, sondern in fast jeden Satz die Wörter "Steak" oder "Brathähnchen" einbauen. Draußen warten die bestellten Taxis und lassen die Taxameter laufen. Aber Ostermeier sagt: "Kommt, Leute, noch ein bisschen!" Aufgabe des Regieassistenten ist es, die Taxifahrer zum Bleiben zu überreden.

2 — Theater als Krimi

Später sitzt das Ensemble in einem Restaurant unweit vom Louvre. Schwitzend nimmt der Kellner die Bestellung der deutschen Reisegruppe auf. Am Nebentisch feiert lärmend eine französische Familie. Als es schon fast halb zwei in der Nacht ist, bestellt Ostermeier einen Kuchen zum Nachtisch. Viele sind schon gegangen. Am Nebentisch ist es ruhig geworden, die Kinder schlafen mit dem Kopf auf der Tischplatte. Der Kellner flambiert den Kuchen, die blaue Flamme schimmert in den müden Augen der verbliebenen Schauspieler. Ostermeier beglückwünscht den Kellner zu dieser Darbietung. Er scheint sich zu freuen, dass wenigstens einer im Raum seinen Sinn fürs Spektakuläre teilt.

Ich habe festgestellt, dass die Leute besser zurechtkommen, wenn ich der Chef bin.
Thomas Ostermeier

Beim Frühstück in einem Café in Saint-Germain-des-Prés sagt er: "Ich habe festgestellt, dass die Leute besser zurechtkommen, wenn ich der Chef bin." Er fügt hinzu: "Ich finde diese Erkenntnis schmerzhaft. Ich habe heute den Leuten gegenüber eine Maske auf."

Thomas Ostermeier sagt, ihn beschäftige die Frage, warum viele Leute Lust hätten, sich abzugeben an jemanden, ihre Verantwortung abzugeben. Warum sie nicht freier und gleicher sein wollten. Er wirkt auf einmal etwas fehl am Platz, viel zu groß an diesem winzigen Cafétisch, unter den seine Beine nicht passen, ganz in Schwarz gekleidet, mit einem Wollschal an einem Frühlingstag. Ein Kapitalismuskritiker zwischen den Pariserinnen mit ihren teuren Sonnenbrillen auf der Nase.

© Maurice Haas

Hier in Saint-Germain-des-Prés befinden sich die Cafés, in denen Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir ihren Lunch einnahmen und Bernard-Henri Lévy heute die Weltlage diskutiert. In Paris gönnen sich traditionell auch linke Vordenker mal etwas. Bei Ostermeier sieht das so aus, dass er zunächst feine Schokolade kauft in einem Laden, vor dem die Menschen Schlange stehen. Außerdem kauft er für seine Freundin, die Violinistin Ayumi Paul, als Geburtstagsgeschenk ein Parfüm in einer Boutique, deren Konzept es ist, den Parfümeur zum Künstler zu erheben. "Parfümeure sind Autoren", erklärt der Verkäufer und hält Ostermeier einen vollgesprühten Pappstreifen hin. Thomas Ostermeier lässt sich nicht anmerken, dass er wahrscheinlich ein anderes Künstlerverständnis hat. Er riecht an dem Papier. "Très bon", sagt er und lässt sich das Parfüm einpacken.

"Ich wäre ein anderer Regisseur, wenn die Kritiker in Deutschland weniger hämisch über mich geschrieben hätten", sagt Ostermeier. "Ich wäre freier." Mit großen Schritten geht er durch die pittoresken Straßen des Rive Gauche. Um ihm zu folgen, muss man ihm fast hinterherrennen und auf den schmalen Bürgersteigen Pollern und Passanten ausweichen. Er sagt, Kritiker feierten nach der Premiere mit dem Ensemble auf der Party, zwei Tage später komme der Verriss. Was das denn für eine Art sei? Allerdings werden Ostermeiers Inszenierungen auch zum renommierten Berliner Theatertreffen eingeladen – von einer Jury aus Theaterkritikern. 2011 erhielt er den Friedrich-Luft-Preis der Berliner Morgenpost.

Vielleicht fühlt Ostermeier sich in Paris deshalb so wohl, weil die Kritiker ihn hier verehren. Es ist, als wären sie ihm unendlich dankbar dafür, dass sie nicht schon wieder ein Molière-Stück unter den Kristalllüstern in der Comédie-Française sehen müssen. In den Rezensionen ist die Rede von Ostermeiers "génie". "Thomas Ostermeier ist nicht nur als Regisseur spitze, das steht sowieso fest ...", beginnt eine Vorabkritik der Füchse im Nouvel Observateur. Die Pariser Kritiker sind im Januar eigens nach Berlin gereist, um sich die Füchse anzusehen. Die Inszenierung sei so fesselnd, wie man es von Ostermeier kenne. Sie loben den Humor, das Krimihafte, das Vitale – atemlos folge man der Geschichte, die von keiner Regieidee gestört werde.

© Maurice Haas

Die Geschichte, die die Schaubühne hier in Paris aufführt, handelt von einer Familie, von drei Geschwistern, gespielt von Nina Hoss, Mark Waschke und David Ruland, die ohne Rücksicht auf Verluste ums Geld streiten, um Anteile am Unternehmen, das ihnen gehört. Die Sache endet nicht für alle gut. Das Bühnenbild besteht aus einem minimalistischen schwarzen Ledersofa und zwei Sesseln, es gibt noch einen Steinway-Flügel sowie einen großen Esstisch mit einer weißen Tischdecke darauf. iPhones gehören zur Requisite. Alles ist Gegenwart und geschmackvoll, ein Bühnenbild wie aus einem Interior-Blog.

Stöckelschuhe hätten alle Frauen an, bemerken viele der deutschen Kritiker. Das Stück sei zu simpel und zu glatt. Wie Spielverderber verraten sie in ihren Besprechungen fast alle das Ende der Geschichte. In Frankreich hat man Ostermeier einen Orden verliehen, den Ordre des Arts et des Lettres. Die Kulturministerin wollte Ostermeier gerade zum Leiter der Comédie-Française machen, was er abgelehnt hat. Der Erfolg der Schaubühne beschränkt sich jedoch nicht auf Frankreich. In der vorigen Spielzeit gab das Theater 23 Gastspiele mit 81 Vorstellungen in Amsterdam, Athen, Buenos Aires, Lausanne, London, Lyon, Malmö, Montréal, New York, Québec, Reims, Rennes, Rom, São Paulo, St. Petersburg, Venedig und Zagreb. Die Theater kaufen Schaubühnenstücke für Gastspiele ein, noch bevor die Proben in Berlin begonnen haben. Die Schaubühne ist wahrscheinlich der wichtigste deutsche Kulturexport neben Neo Rauch, Rammstein und Gerhard Richter.

Nach der Premiere rückt in der fensterlosen Garderobe im Untergeschoss des Theaters eine französische Radiojournalistin ihren Stuhl nah an Thomas Ostermeiers Sessel heran und hält ihm ihr Mikrofon vor das Gesicht. Sie lächelt. "Thoma", haucht sie. "Was ist Ihnen das Wichtigste am Theater?" Dass Franzosen das Flirten in praktisch jeder Lebenssituation beherrschen, spielt vielleicht auch eine Rolle bei Ostermeiers Liebe zu diesem Land.

Doch jetzt hat er schlechte Laune. Er schiebt seinen Sessel von der Journalistin weg und schweigt trotzig auf ihre Frage. Die Premiere lief nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte. Er saß hinten, in der letzten Reihe. Plötzlich übersprang einer der Schauspieler ein paar Sätze, weshalb alle durcheinanderkamen. Die LED-Anzeigetafel, auf der die französische Übersetzung eingeblendet wurde, blieb einige Augenblicke lang schwarz. Es entstand leise Unruhe im Saal. Die Schauspieler erholten sich davon nicht, sie wirkten angespannt. Flüsternd diktierte Ostermeier dem Regieassistenten, der neben ihm saß, was ihm nicht gefällt. Der Assistent tippte alles in ein Notizprogramm seines iPhones. Er tippte während der Vorstellung praktisch ununterbrochen. Ab und zu lachte Ostermeier gequält auf, verbarg mühsam seine Fassungslosigkeit darüber, wie das da ablief. Er erinnerte an einen Fußballtrainer, der am Spielfeldrand steht und sich zusammenreißen muss, nicht auf den Platz zu rennen und den Ball selbst ins Tor zu schießen. Der Schlussapplaus der Aufführung war nicht gerade stürmisch.

Nach der Vorstellung erscheint der Weg im Reisebus vom Vorort in die Stadt hinein dann lang. Es ist ein Uhr. Da stellt Ostermeier sich vorn ans Mikro und ruft: "Wir gehen jetzt noch was trinken!" Er ist Chef, Trainer und Papa, derjenige, der trösten muss, auch wenn er selbst nicht gut drauf ist.

Die Belohnung ist groß, wenn man spürt, dass alles zusammenkommt, man die Nervosität verliert und ich offen und im Moment sein kann.
Nina Hoss

"Manchmal ist mir vor einem Auftritt schlecht vor Aufregung, dann frage ich mich, warum ich diesen Job eigentlich mache", sagt Nina Hoss. "Aber die Belohnung ist groß, wenn man spürt, dass alles zusammenkommt, man die Nervosität verliert und ich offen und im Moment sein kann. Dann weiß ich wieder, warum." Um die Ecke vom Hotel des Ensembles sitzt sie an einem der Nachmittage in einem etwas heruntergekommenen Café, in dem ein Fernseher plärrt und eine Kaffeemühle fast übertönt, was sie sagt. Sie trinkt mit einem Strohhalm Orangina aus einem riesigen Glas. Doch der vornehmen Autorität, die sie ausstrahlt, tut das keinen Abbruch. Sogar die gepiercte Kellnerin scheint es gut machen zu wollen in ihrer Gegenwart und rückt die Tische zurecht.

© Maurice Haas

Von Nina Hoss gibt es keine dämlichen Fotos, keine unsinnigen Zitate, keine albernen Auftritte. Mühelos gelingt ihr, woran so viele scheitern. Nina Hoss weiß sich zu beherrschen. Auf die Frage, warum sie eigentlich keine Fernsehfilme mache wie viele andere Theaterschauspieler, warum sie noch nie in einem Tatort mitgespielt habe oder in einem Dokudrama von Nico Hofmann, sagt sie wohlerzogen: "Es gibt viele schöne Produktionen im Fernsehen, aber im Moment ergibt es sich nicht."

Kein Wort über Privates werde sie sagen, hat Nina Hoss schon vor der Reise über die Pressestelle der Schaubühne mitteilen lassen. Auch Mark Waschke, der auf der Bühne glaubwürdig einen Arsch, eine geldgeile Sportskanone spielt, ist zurückhaltend, fast misstrauisch. "Was willst du denn über uns schreiben?", fragt er, im selben Café sitzend, einen Tag später. Weiter sind die beiden Stars des Ensembles nicht vom Hotel wegzulocken.

© Maurice Haas


Anouk Martini, eine Kunstmäzenin, hat diese bangen Wesen an einem der Abende in ihre mit Kunst vollgestopfte Wohnung am Parc du Luxembourg eingeladen. Die Gastgeberin ist sehr schlank, trägt Lackpumps und hat einen zarten Händedruck. Sie ist schon lange eine Fan von Ostermeiers Arbeit. Einige Schauspieler erzählen, dass sie einmal für das Ensemble eines anderen Gastspiels ein Essen in einem Luxushotel in Südfrankreich gegeben hat. Danach durften alle betrunken in den Pool springen. Jetzt gibt es eine Champagnerbar, Kellner tragen Platten mit Langusten und Stopfleber durch die Wohnung. Die Tochter des Hauses erliegt Ostermeiers Charme in dem Augenblick, in dem sie ihm den Mantel abnimmt. Die Künstler sollen sich für ein Gruppenfoto auf das Sofa im Wohnzimmer setzen. In ihren Jeans und Turnschuhen bewegen sie sich vorsichtig durch die Wohnung, um nicht eine der Skulpturen umzustoßen. Den letzten Teil des Abends verbringen sie unter sich, dicht gedrängt ans Nachspeisenbuffet und rauchend auf dem Balkon. Zum Entsetzen des Kellners und zur Erheiterung seiner Kollegen greift Waschke mit der ganzen Hand vier Macarons auf einmal vom Silbertablett und stopft sie sich in den Mund. Moritz Gottwald macht eindrucksvoll die betroffene Stimme eines ARD-Auslandsreporters nach. Es ist der Spaß, den Kinder auf Familienfesten haben, wenn die Erwachsenen nicht gucken.

3 — Das engagierte Leben

Die Truppe macht sich gegen drei Uhr leicht schwankend auf den Heimweg. Ihre Schritte hallen in den leeren Straßen wider. Ostermeier ist noch geblieben. Nachtschlaf ist eine lästige Unterbrechung seiner Tätigkeiten. Es kann für ihn gar nicht genug Reden und Zuhören geben. Er kommuniziert so gern und so viel, dass auf seinem Handy 114 ungelesene SMS und 365 nicht abgehörte Sprachnachrichten noch auf ihn warten.

Er sagt: "Jedes Interview, das nicht stattfindet, ist ein gutes Interview." Aber wenn man ihn hier in Paris mittags trifft, hat er meist schon von seinem Hotelzimmer aus zwei Interviews am Telefon gegeben. Falls es eine stressfreie Methode geben sollte, ein Theater wie die Schaubühne zu leiten – Ostermeier kennt sie nicht. Er sei eigentlich ständig im Theater am Lehniner Platz, erzählen einige Mitarbeiter. Manchmal sehe er sich den Hamlet noch mal an, der seit sechs Jahren im Repertoire ist. Man kann immer etwas besser machen.

Immer diese Scheißdekonstruktion, was soll daran noch modern sein?
Thomas Ostermeier

Lange galt Ostermeier als zu jung, zu werkstattbühnig, um die Schaubühne zu leiten, ein traditionsreiches Theater, das Peter Stein als lebende Legende verlassen hatte. Heute ist Ostermeier 45, er trägt das angegraute Haar nach Art von Karl-Theodor zu Guttenberg zurückgegelt. Hat er die Kleinen Füchse auch deshalb inszeniert, weil er wusste, dass man mit Nina Hoss und einer packenden Story nur Erfolg haben kann? Über diese Art von Fragen regt er sich auf. "Immer diese Scheißdekonstruktion, was soll daran noch modern sein?", sagt er. Er ist zu Besuch im Atelier der deutschbulgarischen Künstlerin Oda Jaune im 7. Arrondissement. Sie ist eine langjährige Freundin und zeigt ihm ein paar ihrer Aquarelle.

"Wenn man alles dekonstruiert, kann man keine Geschichten erzählen, und dann kann man keine Zusammenhänge erkennen", sagt Ostermeier. "Das ist gut für diejenigen, die den Status quo wahren wollen, und also ist es reaktionär. Es gibt doch gesellschaftliche Zustände, die eindeutig sind, da muss man nichts ironisieren, relativieren: dass ökonomisches Denken unsere intimsten Beziehungen bestimmt, zum Beispiel."
Er schweigt und sieht zu Oda Jaune rüber. "Du hast ja auch keinen Tankwart geheiratet", sagt er.  "Das stimmt", sagt lachend, mit einer hellen, unschuldigen Stimme Oda Jaune, die junge Witwe des Malers Jörg Immendorff, der ihr ein Vermögen in zweistelliger Millionenhöhe hinterlassen hat.

© Maurice Haas

Der Vorortzug bringt Thomas Bading am frühen Abend raus nach Sceaux. Er spielt Nina Hoss’ Ehemann in dem Stück, einen verletzten, bösartigen Mann. Bading hat den Frühlingstag so verbracht, dass er durch Paris geradelt ist. Auf einem Flohmarkt hat er sich für zehn Euro einen italienischen Herrenanzug gekauft. Er ist seit 15 Jahren Mitglied des Ensembles der Berliner Schaubühne und hat schon Ende der neunziger Jahr in Ostermeiers allerersten Erfolgsinszenierungen in der Baracke des Deutschen Theaters mitgespielt. Auf die Frage, ob er vor den Vorstellungen Lampenfieber habe, lacht Bading nett. "Ich habe schon wieder vergessen, mir etwas zum Lesen mitzunehmen", sagt er. Er wartet zwei Drittel des Stücks hinter der Bühne auf seinen Auftritt.

Im Café des Theaters: Nina Hoss braucht einen Kaffee, sonst schläft sie ein. Der Regieassistent lässt ihr eine Tasse schwarzen Kaffee brühen. Nina Hoss hat offenbar auch kein Lampenfieber. Selbst Ostermeier wirkt etwas matt, er humpelt. Er hat sich beim Joggen etwas gezerrt. Das Problem scheint heute Abend nicht Nervosität zu sein, sondern die Frage, wie man genug Adrenalin produziert, um sich auf der Bühne konzentrieren zu können. Waschke erzählt, dass er bei einem anderen Stück mal auf der Bühne eingeschlafen sei: Er spielte einen Schlafenden und schlief ein.

Die Leute im Saal schalten ihre Handys aus. Es wird dunkel. Gemeinsames Schweigen in der Erwartung dessen, was kommt. Die Scheinwerfer gehen an. Die Schauspieler schweben auf die Bühne. Keine Spur von Müdigkeit ist in Nina Hoss’ Gesicht zu sehen, sie ist in ihrem weißen, schmal geschnittenen Kleid die kühle Krimiblondine. Waschke steht breitbeinig und ausgeruht da. 

Ostermeier will, dass das Theater politisch ist. Das klappt nicht immer. Theater ist auch ein Ort der Eitelkeiten und Albernheiten, Theater ist viel Kleinkram, viel Organisation, manches hängt sowieso vom Zufall ab. Was aber klappt: Ostermeier erzählt anschaulich, wie Ideen an Trägheit und Ratlosigkeit scheitern, und in seinen Inszenierungen ist die Sehnsucht danach zu spüren, sich doch einmal überwinden zu können; es ist die Sehnsucht nach dem engagierten, unironischen Leben, danach, etwas Richtiges zu machen, an etwas zu glauben. In den Füchsen scheinen die Figuren den Zuschauer immer wieder zu fragen: Könnte ich anders leben, als ich es tue? Ist Nina Hoss’ Figur den Verhältnissen ausgeliefert, oder hat sie die Verantwortung für ihr Handeln? "Habe ich eine Wahl?", fragt Mark Waschkes Rolle einmal. Diese Fragen scheinen die Berliner und die Pariser gleichermaßen zu beschäftigen. Viele erkennen sich darin wieder. Die Schaubühne ist wohl auch deshalb so erfolgreich, weil man sich dort mit Theater, dieser komplexen Erzählform, nicht unbedingt auskennen muss, um sich angesprochen zu fühlen.

Das Publikum verfolgt das Geschehen in konzentrierter Stille, es wird gelacht bei den Witzen und zwischendrin. Ursina Lardi bekommt Applaus für ihren Monolog als Betrunkene mit luziden Momenten. Am Ende rufen die Zuschauer "Bravo!". Es ist auf einmal so einfach mit der menschlichen Fantasie: Eine Bühne, ein paar Kostüme, Musik, ein paar Sätze, das reicht, und wir sind drin in einer Geschichte, lassen uns auf Figuren ein, die sich jemand mal ausgedacht hat, die es nicht gibt und nie gab und die doch vor unseren Augen zum Leben erweckt werden.

 

Team

Autorin: Elisabeth Raether
Fotograf: Maurice Haas
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Interviews: Maria Exner
Video: Adrian Pohr, Fabian Mohr

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