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In der Nacht auf den 3. Oktober 1990 sang die deutsche Staatsspitze auf dem Balkon des Reichstags die Nationalhymne. Unten auf den Straßen Berlins feierten Menschen mit Fahnen und Sektflaschen die Wiedervereinigung. Es war jene Nacht, in der die Deutsche Einheit vollendet werden und damit, so sahen es viele, auch die Abwanderung der Ostdeutschen in Richtung Westen enden sollte. Kaum jemand ahnte, dass vielen Regionen des Ostens eine neue Abwanderungswelle bevorstand, die in einer schweren demografischen Krise münden würde.

ZEIT ONLINE hat Daten über jeden der rund sechs Millionen Umzüge zwischen Ost und West ausgewertet, vom ersten durchgehend gesamtdeutschen Jahr 1991 bis zum Jahr 2017. Sie zeigen eine der am wenigsten dokumentierten deutschen Nachkriegsgeschichten. Sie zeigen, dass nach der Wiedervereinigung fast ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung Ostdeutschlands in den Westen zog: 3.681.649-mal gingen Menschen fort. Und sie zeigen, dass die 2.451.176 Zuzüge aus dem Westen den Niedergang vieler Orte nicht aufhalten konnten. Erstmals wird deutlich, was nach der Wiedervereinigung in allen Regionen in West und Ost genau geschah. 

Die Abwanderung aus dem Osten geschah in Wellen

Daten seit 1957 zeigen die lange Geschichte der Wanderungen zwischen der DDR (mit Ostberlin), den späteren ostdeutschen Flächenländern und dem Westen.

Kurz nach der Wende befragte das Emnid-Institut die Ostdeutschen nach ihrer Lebenssituation. Die Demoskopen stellten fest, dass unter den Ostdeutschen eine depressive Stimmung herrsche wie sie "noch nie und nirgends zuvor" gemessen worden war. Mehr als ein Drittel der erwachsenen Bevölkerung hatte das Gefühl, "in dieser Gesellschaft nicht mehr gebraucht zu werden". Der Soziologe Paul Windolf schätzt, dass in den fünf Jahren nach der Wende bis zu 80 Prozent der erwerbstätigen Ostdeutschen vorübergehend oder auf Dauer ihren Job verloren. Es gab schon damals Erfolgsgeschichten im Osten, aber an vielen Orten breiteten sich Armut, Angst und Resignation aus.

Welche Wucht die Abwanderung im Osten hatte, wird erst so richtig deutlich, wenn man sich alle Landkreise und kreisfreien Städte im Osten anschaut. Fast alle Landkreise verloren zwischen 1991 und 2017 Menschen an den Westen. Dabei gingen den ostdeutschen Bundesländern nicht nur Steuereinnahmen verloren. Es zerbrach auch vielerorts das, was man die soziale Infrastruktur nennt: Schulen, Krankenhäuser, Sport- und Freizeitanlagen, kulturelle Einrichtungen mussten schließen.

Erst jetzt, bald 30 Jahre später, haben wieder die Hälfte aller ostdeutschen Regionen eine positive Wanderungsbilanz mit den alten Bundesländern. Erstmals ziehen wieder mehr Menschen von West nach Ost als andersherum. Das liegt vor allem daran, dass immer weniger Menschen den Osten verlassen – auch weil in manchen Regionen kaum noch wanderungswillige Menschen da sind, die gehen könnten. Es liegt aber auch daran, dass einige Großstädte und Regionen im Osten wieder Menschen anlocken: Potsdam oder Leipzig zum Beispiel. 

73 von 76 Regionen im Osten verloren an den Westen

Jährlicher Anteil der Menschen, die den Osten in Richtung Westen verließen, sortiert nach dem größten Gesamtverlust.

Wohin gingen die Millionen Menschen, die den Osten über die Jahrzehnte verließen? Ein Blick auf die Karte am Anfang dieses Artikels zeigt einen breiten Strom, der von Sachsen nach Süddeutschland führt. Nach Erding und Freising in Bayern etwa, wo 1992 der Münchener Flughafen Franz Josef Strauß eröffnete und einen Wirtschaftsaufschwung entfachte, in dessen Folge bis in die Nullerjahre Tausende Arbeitsplätze entstanden.  

Gewinner waren auch die mittelgroßen Städte in Baden-Württemberg, Heilbronn oder Pforzheim. Betrachtet man hingegen nur die absolute Zahl der zugezogenen Menschen, sticht eine Stadt heraus: Hamburg. Keine andere Stadt im Westen hat mehr Menschen aus Ostdeutschland aufgenommen, insgesamt rund 190.000. Die meisten von ihnen kamen aus dem nahen Mecklenburg-Vorpommern.

Viele Umzüge nach Süddeutschland – und nach Hamburg

Jährlicher Anteil der Menschen, die der Westen aus dem Osten dazugewann, sortiert nach dem größten Gesamtgewinn.

Doch nicht nur die Wanderung nach Westen hat die ostdeutsche Demografie verschoben. Die sozialen Verwerfungen nach der Wiedervereinigung ließen die Geburtenrate in Ostdeutschland drastisch einbrechen. Von 1990 bis 1994 sank die Geburtenziffer fast um die Hälfte. Viele Frauen und Männer, die nicht wussten, ob sie ihren Job behalten konnten, verschoben die Familiengründung oder verzichteten ganz auf Kinder. Mittlerweile werden im Osten wieder etwas mehr Kinder geboren als im Westen. Doch die Lücke, die in den Neunzigerjahren entstand, hat sich noch lange nicht geschlossen, und viele Orte überaltern. 

Am Beispiel der Kleinstadt Suhl kann man die Folgen wie unter einem Mikroskop beobachten. Keine andere Region hat seit 1991 so viele Menschen verloren wie die frühere Bezirksstadt in Thüringen. Zu DDR-Zeiten florierte Suhl durch den Fahrzeug- und Waffenhersteller Ernst Thälmann, der unter anderem Motorräder der Marke Simson produzierte. Nach der Wende wurde der Betrieb privatisiert, Motorräder der Marke Simson werden nicht mehr hergestellt. Mehr als ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner ist gegangen. Unter dem Strich verlor Suhl rund 15 Prozent an den Westen und 24 Prozent an andere ostdeutsche Regionen. Außerdem starben deutlich mehr Menschen als geboren wurden.

Das Beispiel Suhl: Wie eine Stadt schrumpft

Wie viele ostdeutsche Regionen verlor Suhl nicht nur Menschen an den Westen, sondern auch innerhalb des Ostens. Auch starben mehr Menschen als geboren wurden.

Zuletzt zog die Stadt allerdings wieder mehr Menschen aus dem Westen an. Und noch etwas fällt in unserer Grafik auf: Vor allem Ausländer zogen nach Suhl. Ein Grund: In der Stadt gibt es seit 2014 eine zentrale Erstaufnahmeeinrichtung für Geflüchtete. Nicht nur in Suhl, auch in anderen Orten des Ostens könnten Einwanderer die Demografie stabilisieren. Wäre da nicht ein fataler Zusammenhang: Die Gebiete, die am stärksten verlassen wurden, sind anfälliger für rechtspopulistische Parteien.

Die AfD ist dort stark, wo viele Menschen gingen

In den Landkreisen und kreisfreien Städten im Osten, deren Bevölkerung seit 1991 stark geschrumpft ist, schnitt die AfD bei der Bundestagswahl 2017 besonders gut ab.

Seit der Wiedervereinigung wanderte mehr als ein Viertel der ostdeutschen Bevölkerung zwischen 18 und 30 Jahren in den Westen ab. Man kann darin einen notwendigen Anpassungsprozess sehen, wie er in dynamischen Volkswirtschaften eben geschieht. Ein Nullsummenspiel, in dem westdeutsche Regionen davon profitierten, dass der Osten verlor.

Doch Menschen leben in sozialen und politischen Zusammenhängen, und diese lassen sich nur schwer verschieben. Die jahrzehntelange Abwanderung hat Schäden im Osten hinterlassen, die so schnell nicht verschwinden werden. Selbst in den zurückliegenden deutschen Boomjahren ging es im Osten nur schleppend voran, weil der Mangel an sozialer und technischer Infrastruktur – Schulen, Bibliotheken, öffentlicher Nahverkehr – in vielen Regionen Menschen fernhält, und damit einen nachhaltigen Aufschwung verhindert. Dadurch entsteht eine Frustration, die schon länger politisch spürbar ist.

Inzwischen leiden auch westdeutsche Regionen in der Peripherie unter dem Verlust von Menschen. Und auch im Osten gibt es Städte, in denen es eng wird. Leipzig etwa ist heute die am stärksten wachsende Stadt der Republik. Selbst der Wanderungsstrom zwischen Bayern und Sachsen hat sich umgekehrt: Heute ziehen eher Menschen aus Bayern in den Osten als andersherum. 

Der Osten altert schneller als der Westen

Noch kurz nach der Wiedervereinigung waren Ostdeutsche im Durchschnitt jünger als Westdeutsche. Dieses Verhältnis hat sich radikal gewandelt.

Doch für viele der entleerten Regionen im Osten hat sich nichts verändert. Es ziehen noch immer wenige junge Menschen zu, und die Bevölkerung wird älter und älter. Betrachtet man nur die Karte der Altersstruktur, so gleicht Ostdeutschland heute einem dunkler werdenden Flickenteppich mit einigen hellen Flecken. 

Was das alles den Westen angeht? Ein Blick in die alternden Regionen des Ostens könnte für manche westdeutschen Gegenden einer in ihre eigene Zukunft sein. Auch im Westen wächst der Graben zwischen Ballungsräumen und ihrer Peripherie, zwischen aufstrebenden und aussterbenden Regionen. Ost und West werden sich ähnlicher. Zumindest dort.

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Dieser Artikel ist Teil des ZEIT-ONLINE-Schwerpunktes "Die große Wanderung" aus unserem neuen Ressort X. Eine Auswahl weiterer Schwerpunkte finden Sie hier.

Quellen und Methodik